H. Reichmann, M. Gerber, M. Reckhardt, F. Reinhardt
{"title":"Dynamische Posturografie zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle","authors":"H. Reichmann, M. Gerber, M. Reckhardt, F. Reinhardt","doi":"10.1055/a-0626-6635","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Zusammenfassung Die erfolgreiche Haltungskontrolle setzt eine effektive und effiziente Interaktion aller posturalen Systeme voraus, die sowohl aktiv als auch reaktiv mittels muskulärer Kräfte den Körper im Gleichgewicht halten. Eine Störung dieses komplexen Posturalsystems auf sensorischer, zentraler oder motorischer Ebene führt in der Folge zu einer zunehmenden Instabilität und zu einer erhöhten Sturzneigung. Insofern scheinen die zuverlässige Erhebung der posturalen Kontrolle und die damit verbundene Sturzprävalenz ein wichtiges Element der ambulanten und stationären Versorgung zu sein. Die motorisch-funktionellen Assessments, die sich aus verschiedenen Gleichgewichts- und Stabilitätsaufgaben ergeben, stellen noch immer den Goldstandard zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle dar. Diese Verfahren sind jedoch oftmals nicht in der Lage, die Gleichgewichtsfähigkeit eines Patienten vollumfänglich abzubilden, oder sind aufgrund der subjektiven Bewertung oder unzureichender Standardisierung nur bedingt vergleichbar. Das Ziel der vorliegenden Studie war daher die Entwicklung eines quantitativen Messverfahrens zur Überprüfung der posturalen Kontrolle, basierend auf dem neuroorthopädischen Therapiegerät Posturomed®. Das Messsystem wurde in Form eines reaktiven Screeningverfahrens ausgeführt. Bei diesem werden mechanische Perturbationen erzeugt mittels Elektromagneten, die an der Unterstützungsfläche des Probanden appliziert werden. Der Eignungsnachweis dieses Systems für eine Quantifizierung der posturalen Kontrolle erfolgte durch eine zweiarmige Querschnittsstudie mit 115 gesunden Probanden (Referenzgruppe) und 149 neurologischen Patienten. Die Gruppe der neurologischen Patienten setzte sich zusammen aus – 69 Patienten mit zerebraler Mikroangiopathie (ZMA) mit in den letzten 12 Monaten klinisch eher leichter, aber chronisch progredienter Symptomatik, – 31 Patienten mit Morbus Parkinson Stadium I bis III nach Hoehn & Yahr als chronisch progrediente, multilokuläre Netzwerkerkrankung und – 49 Patienten mit klinisch vordergründig restierender Hemiparese bei Zustand nach zerebraler Embolie (Kraftgrad des betroffenen Beins 4/5 oder latente Parese) außerhalb der Subakutphase. Die Ergebnisse der Studie belegen, dass Perturbationsversuche zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle für ein breites Spektrum neurologischer Patienten geeignet sind. Die Validität des Verfahrens konnte durch eine hohe inhaltliche Übereinstimmung zwischen der dynamischen Posturografie und den konvergenten Maßen der Motorik (Berg Balance Scale; Dynamic Gait Index) nachgewiesen werden. Das vorgestellte System erscheint folglich geeignet, das reaktive Gleichgewicht als eine Eigenschaft der motorischen Standkontrolle zu bestimmen. Die dynamische Posturografie auf Basis eines Perturbationsversuchs kann im klinischen und therapeutischen Umfeld zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle eingesetzt werden. Zielgruppenlimitationen und damit verbundene Einschränkungen der Generalisierbarkeit von motorisch-funktionellen Testverfahren werden mit ihm überwunden. Darüber hinaus können auf der Basis der reaktiven posturalen Kompetenz individuelle Rückschlüsse auf das Sturzrisiko gezogen werden. Die Prognosegüte dieser Sturzrisikobewertung entspricht denen der motorisch-funktionellen Testverfahren und ist je nach Zielgruppe teilweise sogar besser. Für Patienten mit Morbus Parkinson konnte für den Dämpfungskoeffizienten bei einem Grenzwert von Δτ = − 0,45 s die höchste Güte ermittelt werden. Eine Sensitivität von 79 % und Spezifität von 78 % lassen eine gute Verwendung als sturzbezogenes Assessment erkennen. Der routinemäßige klinische Einsatz zur Quantifizierung der Sturzgefährdung, z. B. im Rahmen einer Krankenhausaufnahme, erscheint auf Grundlage der Ergebnisse empfehlenswert. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich ein Assessment für eine Verlaufsbestimmung im Rahmen von Behandlungen einer Erkrankung eignet, ist seine ausreichende Reliabilität. Die laterale Perturbation und dann die Wertung von mittlerer Schwingungsgeschwindigkeit und Schwingungsdistanz sind geeignet für die Beurteilung der posturalen Stabilität im Verlauf neurologischer Erkrankungen und damit auch für eine quantitative Erfassung auftretender Therapieeffekte.","PeriodicalId":50832,"journal":{"name":"Aktuelle Neurologie","volume":"45 1","pages":"714 - 725"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2018-06-18","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://sci-hub-pdf.com/10.1055/a-0626-6635","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Aktuelle Neurologie","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1055/a-0626-6635","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"Medicine","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Zusammenfassung Die erfolgreiche Haltungskontrolle setzt eine effektive und effiziente Interaktion aller posturalen Systeme voraus, die sowohl aktiv als auch reaktiv mittels muskulärer Kräfte den Körper im Gleichgewicht halten. Eine Störung dieses komplexen Posturalsystems auf sensorischer, zentraler oder motorischer Ebene führt in der Folge zu einer zunehmenden Instabilität und zu einer erhöhten Sturzneigung. Insofern scheinen die zuverlässige Erhebung der posturalen Kontrolle und die damit verbundene Sturzprävalenz ein wichtiges Element der ambulanten und stationären Versorgung zu sein. Die motorisch-funktionellen Assessments, die sich aus verschiedenen Gleichgewichts- und Stabilitätsaufgaben ergeben, stellen noch immer den Goldstandard zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle dar. Diese Verfahren sind jedoch oftmals nicht in der Lage, die Gleichgewichtsfähigkeit eines Patienten vollumfänglich abzubilden, oder sind aufgrund der subjektiven Bewertung oder unzureichender Standardisierung nur bedingt vergleichbar. Das Ziel der vorliegenden Studie war daher die Entwicklung eines quantitativen Messverfahrens zur Überprüfung der posturalen Kontrolle, basierend auf dem neuroorthopädischen Therapiegerät Posturomed®. Das Messsystem wurde in Form eines reaktiven Screeningverfahrens ausgeführt. Bei diesem werden mechanische Perturbationen erzeugt mittels Elektromagneten, die an der Unterstützungsfläche des Probanden appliziert werden. Der Eignungsnachweis dieses Systems für eine Quantifizierung der posturalen Kontrolle erfolgte durch eine zweiarmige Querschnittsstudie mit 115 gesunden Probanden (Referenzgruppe) und 149 neurologischen Patienten. Die Gruppe der neurologischen Patienten setzte sich zusammen aus – 69 Patienten mit zerebraler Mikroangiopathie (ZMA) mit in den letzten 12 Monaten klinisch eher leichter, aber chronisch progredienter Symptomatik, – 31 Patienten mit Morbus Parkinson Stadium I bis III nach Hoehn & Yahr als chronisch progrediente, multilokuläre Netzwerkerkrankung und – 49 Patienten mit klinisch vordergründig restierender Hemiparese bei Zustand nach zerebraler Embolie (Kraftgrad des betroffenen Beins 4/5 oder latente Parese) außerhalb der Subakutphase. Die Ergebnisse der Studie belegen, dass Perturbationsversuche zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle für ein breites Spektrum neurologischer Patienten geeignet sind. Die Validität des Verfahrens konnte durch eine hohe inhaltliche Übereinstimmung zwischen der dynamischen Posturografie und den konvergenten Maßen der Motorik (Berg Balance Scale; Dynamic Gait Index) nachgewiesen werden. Das vorgestellte System erscheint folglich geeignet, das reaktive Gleichgewicht als eine Eigenschaft der motorischen Standkontrolle zu bestimmen. Die dynamische Posturografie auf Basis eines Perturbationsversuchs kann im klinischen und therapeutischen Umfeld zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle eingesetzt werden. Zielgruppenlimitationen und damit verbundene Einschränkungen der Generalisierbarkeit von motorisch-funktionellen Testverfahren werden mit ihm überwunden. Darüber hinaus können auf der Basis der reaktiven posturalen Kompetenz individuelle Rückschlüsse auf das Sturzrisiko gezogen werden. Die Prognosegüte dieser Sturzrisikobewertung entspricht denen der motorisch-funktionellen Testverfahren und ist je nach Zielgruppe teilweise sogar besser. Für Patienten mit Morbus Parkinson konnte für den Dämpfungskoeffizienten bei einem Grenzwert von Δτ = − 0,45 s die höchste Güte ermittelt werden. Eine Sensitivität von 79 % und Spezifität von 78 % lassen eine gute Verwendung als sturzbezogenes Assessment erkennen. Der routinemäßige klinische Einsatz zur Quantifizierung der Sturzgefährdung, z. B. im Rahmen einer Krankenhausaufnahme, erscheint auf Grundlage der Ergebnisse empfehlenswert. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich ein Assessment für eine Verlaufsbestimmung im Rahmen von Behandlungen einer Erkrankung eignet, ist seine ausreichende Reliabilität. Die laterale Perturbation und dann die Wertung von mittlerer Schwingungsgeschwindigkeit und Schwingungsdistanz sind geeignet für die Beurteilung der posturalen Stabilität im Verlauf neurologischer Erkrankungen und damit auch für eine quantitative Erfassung auftretender Therapieeffekte.