{"title":"Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie hg. Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll (review)","authors":"Lutz Ellrich","doi":"10.1353/fmt.2021.0010","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Der gegenwärtigen akademischen Philosophie ist jüngst –mit vergleichendem Blick auf vier große Denker des frühen 20. Jahrhunderts, nämlich Wittgenstein, Benjamin, Cassirer und Heidegger – bescheinigt worden, dass sie nicht mehr den Mut und die Kraft habe, „einen relevanten Verständnisbeitrag zu ihrem eigenen, sich in seinen Grundfesten wandelnden Zeitalter zu liefern.“ (W. Ellenberger) Wer diese Diagnose teilt, verlangt folgerichtig nach einem anderen, neuen Denken, das in der Lage wäre, die Probleme der Zeit adäquat zu erfassen und Modelle für deren Lösung zu entwerfen. Zu den radikalsten, auf genau diese Situation zugeschnittenen Angeboten, welche heute auf dem Markt der Ideen gehandelt werden, gehört ein KI-inspiriertes „Denken jenseits des Menschen“ (Dotzler) und die damit verknüpfte „(Wieder)Entdeckung von nicht-menschlicher agency“ (Hörl). Auch die avanciertesten Theoretiker und Praktiker des Theaters experimentieren in den letzten Jahren mit Konzepten, deren Ziel es ist, den konkreten Menschen zu dienen, indem sie denMenschen qua Subjekt de-zentrieren. Es geht bei solchen Experimenten nicht allein um den „Abbau“ eines in die Krise geratenen „Theaters des Menschen“ zugunsten eines denkenden, d.h. über den Menschen hinaus-denkenden Theaters, sondern gleichzeitig auch um die Ablösung des vorherrschenden Philosophierens, das immer noch an den neuzeitlichen Differenzen (Subjekt-Objekt, Geist-Körper etc.) orientiert ist, durch ein szenisches Denken. Der vorliegende Band, der – angereichert mit zusätzlichen Beiträgen – ein Symposion von Theaterwissenschaftler*innen aus Frankfurt und Tel Aviv dokumentiert, macht einerseits deutlich, dass und wie Theater eine eminente Form der philosophischen Reflexion betreiben kann, und greift andererseits die schon vorhandenen philosophischenVersuche auf, Sichtweisen zu erproben, die sich nicht mehr nach den gängigen Mustern des Vorstellens und Repräsentierens richten und deshalb dem Theater der Zukunft geeignete Orientierungsmarken liefern können. Für alle beteiligten ‚Einrichtungen‘ – Theater, Theaterwissenschaft und Philosophie – soll folglich eine ‚Win-Win-Situation‘ geschaffen werden. Im ersten Teil des Buches steht Derridas „Einladung zu einem anderen Denken“ (S. 31) im Zentrum. Anhand seiner Überlegungen zu Shakespeares Theater entfaltet der als „Dekonstruktivist“ allzu simpel verbuchte Philosoph die Frage „nach einer dem Menschlichen selbst inhärenten Entgrenzung desMenschlichen“ (31), wie der Mit-Herausgeber Müller-Schöll treffend bemerkt. Derrida begreift Shakespeares Werk – im speziellen Fall die Gerichtsszene im Kaufmann von Venedig – „als Schauplatz“ eines Denkens, das ständig in Bewegung bleibt und jede sprachlich fixierte Bestimmung einemÜbersetzungsprozess unterwirft, unkonventionelle und unerwartete Bedeutungsfacetten sichtbar macht, wieder verschwinden lässt und durch weitere kurzfristige Sinneffekte ablöst. Diese Shakespeare-Lektüre leistet einen wichtigen Beitrag zum Entwurf eines Theaters, das sich aus guten Gründen vom abendländischen Denken der Repräsentation zu befreien versucht. Denn in der Repräsentation kehrt (wie es Derrida bereits 1980 in seinem berühmten Text „Sendung“ formulierte) das Präsente „als Double, Bildnis, Imago, Kopie [oder] Idee“ wieder und liefert so die abwesende Sache der Verfügungsgewalt des Subjekts aus. Diese Herrschaft des Subjekts, gegen die sich auch Adornos Kritik des ‚identifizierenden Begriffs‘ richtet, soll gebrochen, der „Raum des Vorstellens und des Berechenbaren“ verlassen werden. Derrida hatte freilich nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Gefahren des Projekts, das leicht zur bloßen Mode verkommen kann, betont: „Jede Dekonstruktion der Repräsentation [bliebe] vergeblich [. . .], wenn sie zu irgendeiner Rehabilitierung der Unmittelbarkeit führenwürde.“ Es bedarf demnach äußerster","PeriodicalId":55908,"journal":{"name":"FORUM MODERNES THEATER","volume":"32 1","pages":"129 - 130"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2021-12-16","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"FORUM MODERNES THEATER","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1353/fmt.2021.0010","RegionNum":4,"RegionCategory":"艺术学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"THEATER","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Der gegenwärtigen akademischen Philosophie ist jüngst –mit vergleichendem Blick auf vier große Denker des frühen 20. Jahrhunderts, nämlich Wittgenstein, Benjamin, Cassirer und Heidegger – bescheinigt worden, dass sie nicht mehr den Mut und die Kraft habe, „einen relevanten Verständnisbeitrag zu ihrem eigenen, sich in seinen Grundfesten wandelnden Zeitalter zu liefern.“ (W. Ellenberger) Wer diese Diagnose teilt, verlangt folgerichtig nach einem anderen, neuen Denken, das in der Lage wäre, die Probleme der Zeit adäquat zu erfassen und Modelle für deren Lösung zu entwerfen. Zu den radikalsten, auf genau diese Situation zugeschnittenen Angeboten, welche heute auf dem Markt der Ideen gehandelt werden, gehört ein KI-inspiriertes „Denken jenseits des Menschen“ (Dotzler) und die damit verknüpfte „(Wieder)Entdeckung von nicht-menschlicher agency“ (Hörl). Auch die avanciertesten Theoretiker und Praktiker des Theaters experimentieren in den letzten Jahren mit Konzepten, deren Ziel es ist, den konkreten Menschen zu dienen, indem sie denMenschen qua Subjekt de-zentrieren. Es geht bei solchen Experimenten nicht allein um den „Abbau“ eines in die Krise geratenen „Theaters des Menschen“ zugunsten eines denkenden, d.h. über den Menschen hinaus-denkenden Theaters, sondern gleichzeitig auch um die Ablösung des vorherrschenden Philosophierens, das immer noch an den neuzeitlichen Differenzen (Subjekt-Objekt, Geist-Körper etc.) orientiert ist, durch ein szenisches Denken. Der vorliegende Band, der – angereichert mit zusätzlichen Beiträgen – ein Symposion von Theaterwissenschaftler*innen aus Frankfurt und Tel Aviv dokumentiert, macht einerseits deutlich, dass und wie Theater eine eminente Form der philosophischen Reflexion betreiben kann, und greift andererseits die schon vorhandenen philosophischenVersuche auf, Sichtweisen zu erproben, die sich nicht mehr nach den gängigen Mustern des Vorstellens und Repräsentierens richten und deshalb dem Theater der Zukunft geeignete Orientierungsmarken liefern können. Für alle beteiligten ‚Einrichtungen‘ – Theater, Theaterwissenschaft und Philosophie – soll folglich eine ‚Win-Win-Situation‘ geschaffen werden. Im ersten Teil des Buches steht Derridas „Einladung zu einem anderen Denken“ (S. 31) im Zentrum. Anhand seiner Überlegungen zu Shakespeares Theater entfaltet der als „Dekonstruktivist“ allzu simpel verbuchte Philosoph die Frage „nach einer dem Menschlichen selbst inhärenten Entgrenzung desMenschlichen“ (31), wie der Mit-Herausgeber Müller-Schöll treffend bemerkt. Derrida begreift Shakespeares Werk – im speziellen Fall die Gerichtsszene im Kaufmann von Venedig – „als Schauplatz“ eines Denkens, das ständig in Bewegung bleibt und jede sprachlich fixierte Bestimmung einemÜbersetzungsprozess unterwirft, unkonventionelle und unerwartete Bedeutungsfacetten sichtbar macht, wieder verschwinden lässt und durch weitere kurzfristige Sinneffekte ablöst. Diese Shakespeare-Lektüre leistet einen wichtigen Beitrag zum Entwurf eines Theaters, das sich aus guten Gründen vom abendländischen Denken der Repräsentation zu befreien versucht. Denn in der Repräsentation kehrt (wie es Derrida bereits 1980 in seinem berühmten Text „Sendung“ formulierte) das Präsente „als Double, Bildnis, Imago, Kopie [oder] Idee“ wieder und liefert so die abwesende Sache der Verfügungsgewalt des Subjekts aus. Diese Herrschaft des Subjekts, gegen die sich auch Adornos Kritik des ‚identifizierenden Begriffs‘ richtet, soll gebrochen, der „Raum des Vorstellens und des Berechenbaren“ verlassen werden. Derrida hatte freilich nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Gefahren des Projekts, das leicht zur bloßen Mode verkommen kann, betont: „Jede Dekonstruktion der Repräsentation [bliebe] vergeblich [. . .], wenn sie zu irgendeiner Rehabilitierung der Unmittelbarkeit führenwürde.“ Es bedarf demnach äußerster