{"title":"[Against naive empiricism and power in disguise--political and philosophical ruminations].","authors":"H Walach","doi":"10.1159/000078227","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Viele medizinische Wissenschaftler, auch solche, die sich der Komplementärmedizin widmen, gehen von etwa folgendem Weltund Wissenschaftsbild aus: Es gibt eine Wirklichkeit, die sich irgendwie «draussen» befindet. Durch unsere Sinnesorgane haben wir mehr oder weniger zuverlässige Kenntnis über diese Wirklichkeit. Was die Wissenschaft von der Alltagswelterfahrung unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie ihre Möglichkeiten der Erfahrung dieser Aussenwelt stärker absichert. Zum einen durch kollektiven Konsens, zum anderen durch Erkenntnismethoden. Diese Methoden sind ein bisschen wie kollektive Sinnesorgane. Was einmal festgestellt ist, das ist so. Sind die Fidschi-Inseln einmal entdeckt und kartographiert, dann bleiben sie auf der Landkarte. Weiss man einmal, an welchen Positionen sich die Planeten befinden und welchen Gesetzmässigkeiten ihre Umlaufbahnen gehorchen, dann kann man ihre Bewegungen berechnen und ihre zukünftigen Positionen voraussagen. Tatsache ist, wie Wittgenstein erkannte, alles, was der Fall ist, und das kann man fest-stellen. Dann weiss man es. Zu dieser Fest-stellung verwendet die Wissenschaft ihre Methoden. Und was einmal festgestellt ist, ist der Fall und gehört zu unserem Wissen. Es ist ein einfaches Folgegesetz, dass sich unser Wissen somit laufend erhöht, mindestens potenziell, auch wenn nicht jede einzelne Person über alles Wissen verfügt, so doch die Wissenschaftlergemeinschaft oder die Menschheit als Ganzes. Wissen ist also überdies kumulativ. Deshalb wissen wir, dass z.B. bestimmte Arzneimittel wirksam sind, nämlich diejenigen, für die der Wirksamkeitsnachweis erbracht wird, bei anderen Methoden wissen wir es nicht genau, nämlich weil sie nicht gut genug untersucht sind, und bei wieder anderen wissen wir, dass sie unwirksam sind, weil sie nämlich ihre Wirksamkeit nicht unter eindeutigen Beweis stellen konnten. Deshalb kann man auch bestimmte Heilmethoden und Arzneimittel unter Berufung auf mangelnde wissenschaftliche Belege aus der öffentlichen Erstattungsfähigkeit ausgrenzen, andere nicht. Alles unter Berufung auf Wissenschaftlichkeit, denn was könnten sonst die Kriterien sein? Deswegen wurde etwa vom Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkasse der Akupunktur der Beweis ihrer Wirksamkeit abgesprochen, die sie nun in den grossen Erprobungsverfahren in randomisierten, Plazebo-kontrollierten Studien unter Beweis stellen muss. Deswegen werden jetzt die meisten naturheilkundlichen Medikamente bis auf wenige Ausnahmen von der Positivliste gestrichen. Deswegen halten die meisten Vertreter der akademischen Medizin und ärztliche Standesvertreter viele Verfahren der Komplementärmedizin für unwirksam. Sie unterstellen bei solchen Bewertungen in den meisten Fällen ein Wissenschaftsund Weltbild, das ich oben kurz skizziert habe und das ich «naiv-empiristisch» nennen will. «Naiv» deswegen, weil es in den seltensten Fällen wirklich begründet und reflektiert ist, sondern sich an einen vermeintlichen Allgemeinkonsens anlehnt, und «empiristisch» deswegen, weil es von einer stabilen, unabhängig von menschlichen Erkenntnisbestrebungen vorhandenen und gleichbleibenden Aussenwelt ausgeht. Das Verständnis von Wissenschaft, das einer solchen Argumentation zugrunde liegt, ist sachlich kaum belegbar, wird innerhalb der wissenschaftstheoretischen Diskussion schon längst nicht mehr ernsthaft diskutiert und ist trotzdem noch immer sehr wirkmächtig. Woran liegt das? Und wie würde ein erweitertes Verständnis aussehen? Bleiben wir zuerst bei der ersten Frage, bei den Gründen für das Beharren auf einem sachlich falschen und hinderlichen Verständnis von Wissenschaft. Dafür gibt es mehrere Gründe. (1) Einer ist sicherlich der, dass der Prozess der Reflexion über Wissenschaft und wissenschaftliche Methoden und Voraussetzungen, als Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftsforschung eine junge Disziplin ist. Kaum ein aktiver Forscher ist es gewöhnt, Erkenntnisse über den Forschungsprozess zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn selbst darüber nachzudenken, welche Voraussetzungen seiner täglichen Arbeit zugrunde liegen und ob diese begründet sind. 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Abstract
Viele medizinische Wissenschaftler, auch solche, die sich der Komplementärmedizin widmen, gehen von etwa folgendem Weltund Wissenschaftsbild aus: Es gibt eine Wirklichkeit, die sich irgendwie «draussen» befindet. Durch unsere Sinnesorgane haben wir mehr oder weniger zuverlässige Kenntnis über diese Wirklichkeit. Was die Wissenschaft von der Alltagswelterfahrung unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie ihre Möglichkeiten der Erfahrung dieser Aussenwelt stärker absichert. Zum einen durch kollektiven Konsens, zum anderen durch Erkenntnismethoden. Diese Methoden sind ein bisschen wie kollektive Sinnesorgane. Was einmal festgestellt ist, das ist so. Sind die Fidschi-Inseln einmal entdeckt und kartographiert, dann bleiben sie auf der Landkarte. Weiss man einmal, an welchen Positionen sich die Planeten befinden und welchen Gesetzmässigkeiten ihre Umlaufbahnen gehorchen, dann kann man ihre Bewegungen berechnen und ihre zukünftigen Positionen voraussagen. Tatsache ist, wie Wittgenstein erkannte, alles, was der Fall ist, und das kann man fest-stellen. Dann weiss man es. Zu dieser Fest-stellung verwendet die Wissenschaft ihre Methoden. Und was einmal festgestellt ist, ist der Fall und gehört zu unserem Wissen. Es ist ein einfaches Folgegesetz, dass sich unser Wissen somit laufend erhöht, mindestens potenziell, auch wenn nicht jede einzelne Person über alles Wissen verfügt, so doch die Wissenschaftlergemeinschaft oder die Menschheit als Ganzes. Wissen ist also überdies kumulativ. Deshalb wissen wir, dass z.B. bestimmte Arzneimittel wirksam sind, nämlich diejenigen, für die der Wirksamkeitsnachweis erbracht wird, bei anderen Methoden wissen wir es nicht genau, nämlich weil sie nicht gut genug untersucht sind, und bei wieder anderen wissen wir, dass sie unwirksam sind, weil sie nämlich ihre Wirksamkeit nicht unter eindeutigen Beweis stellen konnten. Deshalb kann man auch bestimmte Heilmethoden und Arzneimittel unter Berufung auf mangelnde wissenschaftliche Belege aus der öffentlichen Erstattungsfähigkeit ausgrenzen, andere nicht. Alles unter Berufung auf Wissenschaftlichkeit, denn was könnten sonst die Kriterien sein? Deswegen wurde etwa vom Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkasse der Akupunktur der Beweis ihrer Wirksamkeit abgesprochen, die sie nun in den grossen Erprobungsverfahren in randomisierten, Plazebo-kontrollierten Studien unter Beweis stellen muss. Deswegen werden jetzt die meisten naturheilkundlichen Medikamente bis auf wenige Ausnahmen von der Positivliste gestrichen. Deswegen halten die meisten Vertreter der akademischen Medizin und ärztliche Standesvertreter viele Verfahren der Komplementärmedizin für unwirksam. Sie unterstellen bei solchen Bewertungen in den meisten Fällen ein Wissenschaftsund Weltbild, das ich oben kurz skizziert habe und das ich «naiv-empiristisch» nennen will. «Naiv» deswegen, weil es in den seltensten Fällen wirklich begründet und reflektiert ist, sondern sich an einen vermeintlichen Allgemeinkonsens anlehnt, und «empiristisch» deswegen, weil es von einer stabilen, unabhängig von menschlichen Erkenntnisbestrebungen vorhandenen und gleichbleibenden Aussenwelt ausgeht. Das Verständnis von Wissenschaft, das einer solchen Argumentation zugrunde liegt, ist sachlich kaum belegbar, wird innerhalb der wissenschaftstheoretischen Diskussion schon längst nicht mehr ernsthaft diskutiert und ist trotzdem noch immer sehr wirkmächtig. Woran liegt das? Und wie würde ein erweitertes Verständnis aussehen? Bleiben wir zuerst bei der ersten Frage, bei den Gründen für das Beharren auf einem sachlich falschen und hinderlichen Verständnis von Wissenschaft. Dafür gibt es mehrere Gründe. (1) Einer ist sicherlich der, dass der Prozess der Reflexion über Wissenschaft und wissenschaftliche Methoden und Voraussetzungen, als Wissenschaftstheorie oder Wissenschaftsforschung eine junge Disziplin ist. Kaum ein aktiver Forscher ist es gewöhnt, Erkenntnisse über den Forschungsprozess zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn selbst darüber nachzudenken, welche Voraussetzungen seiner täglichen Arbeit zugrunde liegen und ob diese begründet sind. Unsere Ausbildungsund Lehrstrukturen sehen diesen Reflexionsprozess