{"title":"Intertextuelle Verhandlungen. Zur Kafka-Rezeption in der afrikanischen Literatur","authors":"Nadjib Sadikou","doi":"10.1111/gequ.12483","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>In einem Brief an Oskar Pollak vom 27.01.1904 wirft Kafka folgende Frage auf: „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“ Ein Buch, so Kafka, müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns (<i>Briefe</i> 36). Eine solche kafkaeske Wahrnehmung der Literatur als „Faustschlag“ lässt sich in der Entstehung der afrikanischen Literatur dokumentieren: Aimé Césaire, neben Léopold Sédar Senghor und Gontrand Damas, Mitbegründer der in den 1930er Jahren in Paris entstandenen kulturphilosophischen und literarischen Emanzipationsbewegung „Négritude“, verstand Literatur als „arme miraculeuse“ (Césaire 31), als wundervolle Waffe, durch welche die damalige Schwarze Elite in Frankreich ihre von der französischen Politik abgewerteten kulturellen Identitäten aufwerten konnte. Vor allem Césaire und Senghor waren darauf bedacht, auf der Grundlage einer perfekten und profunden Kenntnis der französischen Sprache die „kolonialen Mythen“ anzuprangern (Riesz X). Bücher zu verfassen war bei den Schwarzen Eliten der Königsweg, den französischen Institutionen und Behörden die Vielfalt Schwarzer Kulturen zu zeigen. Künstlerische Beziehungen und Querbezüge zu Kafka lassen sich obendrein durch intertextuelle Elemente in vielen westafrikanischen Werken belegen. Leo Kreutzer hat am Beispiel von Kafkas Novelle <i>Die Verwandlung</i> und der Erzählung <i>L'os</i> des senegalesischen Schriftstellers Birago Diop demonstriert, „wie sich die Wahrnehmung literarischer Texte aus zwei kulturell sehr unterschiedlichen Kontexten durch die Inszenierung von ‚regards croisés‘ und durch eine interkulturell ‚doppelblickende Lektüre‘ zwischen ihnen erweitern kann“ (Kreutzer 60–61).</p><p>Am Beispiel des Romans <i>Le regard du Roi</i> (<i>Der Blick des Königs</i>) des guineischen Schriftstellers Camara Laye (1928-1980) möchte ich einige intertextuelle Bezüge bzw. Aspekte der „Absorption und Transformation“ (Kristeva 347) von Kafkas Roman <i>Das Schloß</i> aufzeigen. Camara Laye ist deswegen für die frankophone afrikanische Literatur relevant, weil seine Romane als unverzichtbare Werke der afrikanischen Gegenwartsliteratur eingestuft werden können. Bereits das von Laye ausgewählte Epigraph für den Roman <i>Le regard du roi</i>, nämlich „[…] Le Seigneur passera dans le couloir regardera le prisonnier et dira: - Celui-ci, il ne faut pas l´enfermer à nouveau: il vient à moi“ (Laye, <i>Le regard</i> 3) ist ein Zitat von Kafka: „während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: ‚Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir‘“ (Kafka, <i>Hochzeitsvorbereitungen</i> 81). In Anlehnung an Gérard Genettes Kategorien der Intertextualität könnte man Camara Layes Epigraph als „Paratext“ auffassen (Genette 11). Ähnlich wie in <i>Das Schloß</i>, in dem das ganze Streben des Protagonisten K. darauf gerichtet ist, sich dem Schloss zu nähern und Zugang zur Schloss-Welt zu erhalten, handelt Layes Buch von der Geschichte des weißen Franzosen Clarence, der eine Reise in ein fiktives afrikanisches Land unternimmt und dabei bezweckt, dem Blick des Königs des Landes würdig zu werden und ihn anzusprechen. Vor der Erfüllung seines Wunsches muss Clarence jedoch einen Transformationsprozess durchlaufen, der darin besteht, dass er seine Identität als „homme blanc“, als „ein Weißer“ (Laye, <i>Blick</i> 13) hinterfragt und seine Einbildung von einer weißen Suprematie ablegt.</p><p>Es lässt sich durch das oben Ausgeführte folgende Erkenntnis gewinnen: Camara Layes Roman <i>Der Blick des Königs</i> erweist sich als Umschrift von Kafkas <i>Das Schloß</i>, ohne im Modus einer bloß mimetischen Reproduktion oder Transposition zu verharren. Denn Kafkas Plot wird nicht einfach in die westafrikanische kulturelle Situation übersetzt, sondern so rekonfiguriert, dass jede Vergleichslektüre gleichsam inmitten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden Spielräume für Übergänge und Verhandlungen zwischen Europa und Afrika entdecken kann. So lässt sich eine Überlappung kulturellen Denkens und ein geschärftes Bewusstsein einer <i>histoire croisée</i> zwischen Nord und Süd generieren.</p><p>Open access funding enabled and organized by Projekt DEAL.</p><p>[Correction added on November 8, 2024 after first online publication: The Projekt DEAL funding statement has been added.]</p>","PeriodicalId":54057,"journal":{"name":"GERMAN QUARTERLY","volume":"97 4","pages":"536-539"},"PeriodicalIF":0.2000,"publicationDate":"2024-11-06","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/gequ.12483","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"GERMAN QUARTERLY","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/gequ.12483","RegionNum":3,"RegionCategory":"文学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"LANGUAGE & LINGUISTICS","Score":null,"Total":0}
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Abstract
In einem Brief an Oskar Pollak vom 27.01.1904 wirft Kafka folgende Frage auf: „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“ Ein Buch, so Kafka, müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns (Briefe 36). Eine solche kafkaeske Wahrnehmung der Literatur als „Faustschlag“ lässt sich in der Entstehung der afrikanischen Literatur dokumentieren: Aimé Césaire, neben Léopold Sédar Senghor und Gontrand Damas, Mitbegründer der in den 1930er Jahren in Paris entstandenen kulturphilosophischen und literarischen Emanzipationsbewegung „Négritude“, verstand Literatur als „arme miraculeuse“ (Césaire 31), als wundervolle Waffe, durch welche die damalige Schwarze Elite in Frankreich ihre von der französischen Politik abgewerteten kulturellen Identitäten aufwerten konnte. Vor allem Césaire und Senghor waren darauf bedacht, auf der Grundlage einer perfekten und profunden Kenntnis der französischen Sprache die „kolonialen Mythen“ anzuprangern (Riesz X). Bücher zu verfassen war bei den Schwarzen Eliten der Königsweg, den französischen Institutionen und Behörden die Vielfalt Schwarzer Kulturen zu zeigen. Künstlerische Beziehungen und Querbezüge zu Kafka lassen sich obendrein durch intertextuelle Elemente in vielen westafrikanischen Werken belegen. Leo Kreutzer hat am Beispiel von Kafkas Novelle Die Verwandlung und der Erzählung L'os des senegalesischen Schriftstellers Birago Diop demonstriert, „wie sich die Wahrnehmung literarischer Texte aus zwei kulturell sehr unterschiedlichen Kontexten durch die Inszenierung von ‚regards croisés‘ und durch eine interkulturell ‚doppelblickende Lektüre‘ zwischen ihnen erweitern kann“ (Kreutzer 60–61).
Am Beispiel des Romans Le regard du Roi (Der Blick des Königs) des guineischen Schriftstellers Camara Laye (1928-1980) möchte ich einige intertextuelle Bezüge bzw. Aspekte der „Absorption und Transformation“ (Kristeva 347) von Kafkas Roman Das Schloß aufzeigen. Camara Laye ist deswegen für die frankophone afrikanische Literatur relevant, weil seine Romane als unverzichtbare Werke der afrikanischen Gegenwartsliteratur eingestuft werden können. Bereits das von Laye ausgewählte Epigraph für den Roman Le regard du roi, nämlich „[…] Le Seigneur passera dans le couloir regardera le prisonnier et dira: - Celui-ci, il ne faut pas l´enfermer à nouveau: il vient à moi“ (Laye, Le regard 3) ist ein Zitat von Kafka: „während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: ‚Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir‘“ (Kafka, Hochzeitsvorbereitungen 81). In Anlehnung an Gérard Genettes Kategorien der Intertextualität könnte man Camara Layes Epigraph als „Paratext“ auffassen (Genette 11). Ähnlich wie in Das Schloß, in dem das ganze Streben des Protagonisten K. darauf gerichtet ist, sich dem Schloss zu nähern und Zugang zur Schloss-Welt zu erhalten, handelt Layes Buch von der Geschichte des weißen Franzosen Clarence, der eine Reise in ein fiktives afrikanisches Land unternimmt und dabei bezweckt, dem Blick des Königs des Landes würdig zu werden und ihn anzusprechen. Vor der Erfüllung seines Wunsches muss Clarence jedoch einen Transformationsprozess durchlaufen, der darin besteht, dass er seine Identität als „homme blanc“, als „ein Weißer“ (Laye, Blick 13) hinterfragt und seine Einbildung von einer weißen Suprematie ablegt.
Es lässt sich durch das oben Ausgeführte folgende Erkenntnis gewinnen: Camara Layes Roman Der Blick des Königs erweist sich als Umschrift von Kafkas Das Schloß, ohne im Modus einer bloß mimetischen Reproduktion oder Transposition zu verharren. Denn Kafkas Plot wird nicht einfach in die westafrikanische kulturelle Situation übersetzt, sondern so rekonfiguriert, dass jede Vergleichslektüre gleichsam inmitten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden Spielräume für Übergänge und Verhandlungen zwischen Europa und Afrika entdecken kann. So lässt sich eine Überlappung kulturellen Denkens und ein geschärftes Bewusstsein einer histoire croisée zwischen Nord und Süd generieren.
Open access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
[Correction added on November 8, 2024 after first online publication: The Projekt DEAL funding statement has been added.]
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