{"title":"TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater ed. by Karin Nissen-Rizvani and Martin Jörg Schäfer (review)","authors":"","doi":"10.1353/fmt.2023.a908151","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Reviewed by: TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater ed. by Karin Nissen-Rizvani and Martin Jörg Schäfer Artur Pełka (bio) Karin Nissen-Rizvani, Martin Jörg Schäfer (Hg.): TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater. Recherchen 155. Berlin: Theater der Zeit 2020. Das Gegenwartstheater zeichnet eine enorme Vielfalt an Stilen und Tendenzen aus. Trotz der Etablierung des postdramatischen Modells in Praxis und Theorie und der damit einhergehenden Enthierarchisierung der Sprache stützt sich das Gros der szenischen Kunstproduktionen weiterhin auf Texte, darunter auch immer häufiger auf solche, die nicht zu Beginn der Proben vorliegen, sondern von den Beteiligten kollektiv entwickelt oder gar erst während der Aufführung zusammen mit dem Publikum erzeugt werden. Diesem deutlichen Trend widmen sich die Autor*innen des Sammelbandes, der auf eine internationale Tagung zurückgeht, die im Januar 2019 in Hamburg stattfand. Mit dem Titel TogetherText erfand das Professor*innen-Duo Karin Nissen-Rizvani und Martin Jörg Schäfer, das für die Organisation der Tagung sowie die Herausgabe des Bandes zuständig war, eine für das Doppelprojekt treffende Bezeichnung, deren Bedeutungsspektrum im Übrigen in der äußerst plausiblen Einführung erläutert wird. In der scheinbar prätentiösen Fremd- bzw. Neuwortschöpfung verbirgt sich letztlich das, was für die neuartige Formen der Textproduktion für Theater und Performance essentiell ist: Kollektivität, Vielstimmigkeit und Transnationalität. Subsumiert werden unter den Begriff allerdings höchst unterschiedliche Textphänomene, und zwar nicht nur solche die in kollektiven Probenprozessen, sondern auch in fiktiv sozialen Räumen unter Beteiligung des Publikums generiert werden, ferner auf Recherchearbeit fundierte oder exophon bzw. (post-)migrantisch vollzogene Stückentwicklungen. Diese Diversität wird in der gesamten Publikation ganz entschieden hervorgehoben, unterschiedliche Formen sehr differenziert ausgelotet, ohne in allzu pauschalisierende epistemologische Modi zu verfallen. Der Wert des Buches ist aber vor allem damit begründet, dass er ein bis dato sehr sparsam beachtetes Forschungsfeld mutig betritt und diese spürbare wissenschaftliche Lücke zumindest partiell schließt. Der Band ist interdisziplinär angelegt, denn die versammelten 16 Beiträge wurden sowohl von Vertreter*innen der Kunst bzw. der Dramaturgie als auch der Wissenschaft verfasst. So gestaltet sich das Buch in seiner Vielstimmigkeit selbst zu einem Quasi-TogetherText, zumal er nicht nur strikte wissenschaftliche Artikel, sondern auch dialogische, essayistische und künstlerisch angehauchte Texte zusammenbringt. Obwohl das Spektrum der voneinander inhaltlich, stilistisch – und teilweise auch qualitativ – sehr divergierenden Beiträgen sehr breit ist, liegt der Gesamtpublikation ein sehr durchdachtes redaktionelles Konzept zugrunde. Nach dem einleitenden Teil, in dem institutionelle und theatergeschichtliche Aspekte verhandelt werden, folgen drei Kapitel, die unterschiedliche Arten der gemeinsamen Texterzeugung fokussieren. Es handelt sich dabei zunächst um Texte, bei deren Entstehung das gesamte Produktionsteam während der Proben beteiligt ist, ferner um Texte, die entweder durch ein unabhängiges Kollektiv oder in der Zusammenarbeit zwischen Regie und Laien bzw. thematisch Beteiligten generiert werden. Während in diesen beiden Fällen das Publikum in den Entstehungsprozess nicht involviert ist, stützt sich die dritte Kategorie gerade auf dessen aktive Beteiligung an der Texterzeugung. Alle drei Tendenzen werden mit konkreten, meist deutschlandzentrierten künstlerischen Beispielen exemplifiziert, wobei besonderes Augenmerk dem Künstlerkollektiv SIGNA gilt, dessen Projekten insgesamt drei Beiträge gewidmet sind. Dieses Ungleichgewicht bzw. die Unvollständigkeit einschlägiger Beispiele bildet einen Schönheitsfehler des Bandes, der letztlich keinesfalls einen Anspruch auf Lückenlosigkeit erhebt. Dies betrifft auch die unterrepräsentierte Verortung des Phänomens in aktuelle internationale Kontexte, was allerdings mit einer ausführlichen [End Page 142] Darstellung der internationalen Vorgeschichte des Trends gewissermaßen kompensiert wird. Einer der großen Vorteile des Bandes ergibt sich daraus, dass die Beiträge bemüht sind, Modelle wissenschaftlicher Herangehensweisen an die prozessual erzeugten und oft ephemeren sprachlichen Artefakte zu entwerfen, über Textdokumentation, -autorisation und -analyse zu reflektieren und zumindest ansatzweise ein theoretisches wie methodologisches Instrumentarium zu liefern. Lobenswert ist auch, dass die besprochenen Textphänomene konsequent sowohl mit szenischen als auch gesellschaftlichen Kontexten in Verbindung gesetzt werden. So kreisen die Beiträge nicht nur um exakte künstlerische Inhalte, sondern nehmen rechtliche, wirtschaftliche, institutionelle und nicht zuletzt genderspezifische Aspekte ins Visier. 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Abstract
Reviewed by: TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater ed. by Karin Nissen-Rizvani and Martin Jörg Schäfer Artur Pełka (bio) Karin Nissen-Rizvani, Martin Jörg Schäfer (Hg.): TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater. Recherchen 155. Berlin: Theater der Zeit 2020. Das Gegenwartstheater zeichnet eine enorme Vielfalt an Stilen und Tendenzen aus. Trotz der Etablierung des postdramatischen Modells in Praxis und Theorie und der damit einhergehenden Enthierarchisierung der Sprache stützt sich das Gros der szenischen Kunstproduktionen weiterhin auf Texte, darunter auch immer häufiger auf solche, die nicht zu Beginn der Proben vorliegen, sondern von den Beteiligten kollektiv entwickelt oder gar erst während der Aufführung zusammen mit dem Publikum erzeugt werden. Diesem deutlichen Trend widmen sich die Autor*innen des Sammelbandes, der auf eine internationale Tagung zurückgeht, die im Januar 2019 in Hamburg stattfand. Mit dem Titel TogetherText erfand das Professor*innen-Duo Karin Nissen-Rizvani und Martin Jörg Schäfer, das für die Organisation der Tagung sowie die Herausgabe des Bandes zuständig war, eine für das Doppelprojekt treffende Bezeichnung, deren Bedeutungsspektrum im Übrigen in der äußerst plausiblen Einführung erläutert wird. In der scheinbar prätentiösen Fremd- bzw. Neuwortschöpfung verbirgt sich letztlich das, was für die neuartige Formen der Textproduktion für Theater und Performance essentiell ist: Kollektivität, Vielstimmigkeit und Transnationalität. Subsumiert werden unter den Begriff allerdings höchst unterschiedliche Textphänomene, und zwar nicht nur solche die in kollektiven Probenprozessen, sondern auch in fiktiv sozialen Räumen unter Beteiligung des Publikums generiert werden, ferner auf Recherchearbeit fundierte oder exophon bzw. (post-)migrantisch vollzogene Stückentwicklungen. Diese Diversität wird in der gesamten Publikation ganz entschieden hervorgehoben, unterschiedliche Formen sehr differenziert ausgelotet, ohne in allzu pauschalisierende epistemologische Modi zu verfallen. Der Wert des Buches ist aber vor allem damit begründet, dass er ein bis dato sehr sparsam beachtetes Forschungsfeld mutig betritt und diese spürbare wissenschaftliche Lücke zumindest partiell schließt. Der Band ist interdisziplinär angelegt, denn die versammelten 16 Beiträge wurden sowohl von Vertreter*innen der Kunst bzw. der Dramaturgie als auch der Wissenschaft verfasst. So gestaltet sich das Buch in seiner Vielstimmigkeit selbst zu einem Quasi-TogetherText, zumal er nicht nur strikte wissenschaftliche Artikel, sondern auch dialogische, essayistische und künstlerisch angehauchte Texte zusammenbringt. Obwohl das Spektrum der voneinander inhaltlich, stilistisch – und teilweise auch qualitativ – sehr divergierenden Beiträgen sehr breit ist, liegt der Gesamtpublikation ein sehr durchdachtes redaktionelles Konzept zugrunde. Nach dem einleitenden Teil, in dem institutionelle und theatergeschichtliche Aspekte verhandelt werden, folgen drei Kapitel, die unterschiedliche Arten der gemeinsamen Texterzeugung fokussieren. Es handelt sich dabei zunächst um Texte, bei deren Entstehung das gesamte Produktionsteam während der Proben beteiligt ist, ferner um Texte, die entweder durch ein unabhängiges Kollektiv oder in der Zusammenarbeit zwischen Regie und Laien bzw. thematisch Beteiligten generiert werden. Während in diesen beiden Fällen das Publikum in den Entstehungsprozess nicht involviert ist, stützt sich die dritte Kategorie gerade auf dessen aktive Beteiligung an der Texterzeugung. Alle drei Tendenzen werden mit konkreten, meist deutschlandzentrierten künstlerischen Beispielen exemplifiziert, wobei besonderes Augenmerk dem Künstlerkollektiv SIGNA gilt, dessen Projekten insgesamt drei Beiträge gewidmet sind. Dieses Ungleichgewicht bzw. die Unvollständigkeit einschlägiger Beispiele bildet einen Schönheitsfehler des Bandes, der letztlich keinesfalls einen Anspruch auf Lückenlosigkeit erhebt. Dies betrifft auch die unterrepräsentierte Verortung des Phänomens in aktuelle internationale Kontexte, was allerdings mit einer ausführlichen [End Page 142] Darstellung der internationalen Vorgeschichte des Trends gewissermaßen kompensiert wird. Einer der großen Vorteile des Bandes ergibt sich daraus, dass die Beiträge bemüht sind, Modelle wissenschaftlicher Herangehensweisen an die prozessual erzeugten und oft ephemeren sprachlichen Artefakte zu entwerfen, über Textdokumentation, -autorisation und -analyse zu reflektieren und zumindest ansatzweise ein theoretisches wie methodologisches Instrumentarium zu liefern. Lobenswert ist auch, dass die besprochenen Textphänomene konsequent sowohl mit szenischen als auch gesellschaftlichen Kontexten in Verbindung gesetzt werden. So kreisen die Beiträge nicht nur um exakte künstlerische Inhalte, sondern nehmen rechtliche, wirtschaftliche, institutionelle und nicht zuletzt genderspezifische Aspekte ins Visier. Dies geht mit einer auffallenden Aufgeschlossenheit für gesellschaftliche Differenzierung einher. Die...