Eine unmögliche Ästhetik. Elfriede Jelinek im literarischen Feld by Uta Degner (review)

IF 0.2 0 HUMANITIES, MULTIDISCIPLINARY
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Während die Beiträge im Sammelband sich mit Jelineks provokativ-kritischen poetologischen und revolutionär selbstreflektierenden theaterästhetischen Konzepten auseinandersetzen, geht es in der Monografie um den ambitionierten Versuch die Genealogie der Jelinek'schen Ästhetik—von der Popliteratur der 60er Jahre (wir sind lockvögel baby!) bis zur Internetliteratur (Neid) im 21. Jahrhundert—zu erfassen. Degners Hauptinteresse gilt dabei der \"zugrunde liegenden Logik der Jelinek'schen Ästhetik, ihren spezifischen Positionierungen, die es immer wieder auch erfordern, wichtige konkurrierende Ästhetiken des literarischen Feldes zu berücksichtigen\" (12). Mit bemerkenswerter wissenschaftlicher Akribie erläutert sie im Einleitungskapitel ihren innovativen theoretischen Ansatz, mit dem sie sich bewusst von traditionelleren literaturwissenschaft-lichen Ästhetikanalysen absetzt. Sie greift auf Pierre Bourdieus Theorie der ästhetischen Autonomie und (quasi) \"unmöglichen\" posture (16) zurück und interpretiert die künstlerische Positionierung der Autorin mittels Bourdieus Habitusmodell als einen durch ihre soziale Biografie bedingten \"gespaltenen Habitus\": \"Jelineks Konzeption ästhetischer Erfahrung ist ihrer familiären Erfahrung […] homolog\" (17). Weiters stützt Degner sich auf Jerôme Meizozs Begriff der \"autorschaftliche[n] posture\" im literarischen Feld (14) um zu zeigen, unter welchen feldspezifischen Bedingungen sich eine nicht vorhersehbare [End Page 122] neue (\"unmögliche\", paradoxe) Ästhetik etablieren könne und wie relativ unkontrollierbar die Entstehung dieser neuen künstlerischen Position ist (16). Schließlich führt Degner die Anagnorisis (Aha-Effekt) als besonders sinnvoll für ihre autor-werkzentrierte Rekonstruktion der literarischen Genealogie Elfriede Jelineks an und gibt zu verstehen, die Anagnorisis für Jelineks Ästhetik bedeute nicht das Wiedererkennen, sondern die Umwandlung von Unkenntnis in Kenntnis (21). Dem Einleitungskapitel, in dem am Ende auf Verena Hollers \"literarisches Feld Österreich\" aufmerksam gemacht und der derzeitige Forschungsstand zu Jelineks Oeuvre knapp umrissen wird, folgen in acht Kapitel über 300 Seiten Degners interessante close readings und aufschlussreiche narratologische Analysen von Wir sind Lockvögel Baby! (Kap. 1), Die Liebhaberinnen (Kap. 2), Die Ausgesperrten (Kap. 3), Die Klavierspielerin (Kap. 5), Lust (Kap. 6), Burgtheater (Kap. 7) und Neid (Kap. 8). Degner führt an diesen Werken eine spannende \"Anamnese ihre[r] feldsoziologischen Distinktionswerte […]\" (327) durch. Damit gelingt es ihr \"relevante ästhetisch-kulturelle Kontexte und ihre Korrelierung zur jeweiligen paradoxen Autorschaftspositionierung Jelineks\" (14) offenzulegen und aufgrund dieser Kombination die Bestimmung der ästhetischen Individualität der jeweiligen Werke zu präzisieren. Besonders reizvoll sind die Neuinterpretationen, vor allem deshalb, weil Degner immer wieder Jelineks Kurzprosa (sowohl in den bekannten als auch in seltener rezipierten Essays) untersucht und auch dort Aussagen herausliest und Beweise aufdeckt, die ihre Argumentation verfestigen (siehe Literaturverzeichnis 333–36). Darüber hinaus verdeutlicht sie mittels ihrer ausführlichen Darstellungen der polemisch-konfrontierenden paradoxen posture Jelineks, die sich bereits im 1969 (zusammen mit Wilhelm Zobl) verfassten Offenen Brief gegen die Auffassung der Grazer Avantgarde (Kolleritsch, Handke, u.a.: Kunst kann gesellschaftsverändernd wirken) und in Jelineks Mitarbeit im Arbeitskreis österreichischer Literaturproduzenten manifestierte (83–91), dass die innovative Ästhetik der Autorin von Anfang an als häretische Waffe zu verstehen sei. Im Kapitel 4 setzt sich Degner mit Jelineks feministischem Engagement auseinander und stellt in diesem Zusammenhang ebenfalls fest: die feministische posture Jelineks ist \"vor allem eine häretische, die sich provokativ gegen kursierende Doxai des Feminismus wendet\" (173). Degner findet dafür frühe Beweise in den zwischen 1977 und 1987 in der Berliner radikalfeministischen Zeitschrift Schwarze Botin veröffentlichten Beiträgen Jelineks [End Page 123] (\"wo der klebrige Schleim weiblicher Zusammengehörigkeit sein Ende hat\", 173) und veranschaulicht einerseits die kritische Haltung der Autorin gegen die écriture féminine des französischen intellektuellen Feminismus und Ablehnung der sogenannten Frauenliteratur von u.a. Verena Stefan und Brigitte Schwaiger (180–84) und andererseits Jelineks Befürwortung der progressiven feministischen Avantgardekunst der Medien- und Performancekünstlerin VALIE EXPORT. Jelinek mit ihrem kompromisslosen Feminismus...","PeriodicalId":40350,"journal":{"name":"Journal of Austrian Studies","volume":"3 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.2000,"publicationDate":"2023-09-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Journal of Austrian Studies","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1353/oas.2023.a906970","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"HUMANITIES, MULTIDISCIPLINARY","Score":null,"Total":0}
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Abstract

Reviewed by: Eine unmögliche Ästhetik. Elfriede Jelinek im literarischen Feld by Uta Degner Margarete Lamb-Faffelberger Uta Degner, Eine unmögliche Ästhetik. Elfriede Jelinek im literarischen Feld. Literaturgeschichte in Studien und Quellen 33. Wien: Böhlau, 2022. 371 S. Die vorliegende Forschungsarbeit—basierend auf Uta Degners Habilitationsschrift—wurde wenige Wochen nach der Publikation der Anthologie Elfriede Jelinek: Provokationen der Kunst (De Gruyter, Oktober 2021), die Degner zusammen mit Christa Gürtler herausgegeben hat, im Böhlau Verlag (Dezember 2021) veröffentlicht. Während die Beiträge im Sammelband sich mit Jelineks provokativ-kritischen poetologischen und revolutionär selbstreflektierenden theaterästhetischen Konzepten auseinandersetzen, geht es in der Monografie um den ambitionierten Versuch die Genealogie der Jelinek'schen Ästhetik—von der Popliteratur der 60er Jahre (wir sind lockvögel baby!) bis zur Internetliteratur (Neid) im 21. Jahrhundert—zu erfassen. Degners Hauptinteresse gilt dabei der "zugrunde liegenden Logik der Jelinek'schen Ästhetik, ihren spezifischen Positionierungen, die es immer wieder auch erfordern, wichtige konkurrierende Ästhetiken des literarischen Feldes zu berücksichtigen" (12). Mit bemerkenswerter wissenschaftlicher Akribie erläutert sie im Einleitungskapitel ihren innovativen theoretischen Ansatz, mit dem sie sich bewusst von traditionelleren literaturwissenschaft-lichen Ästhetikanalysen absetzt. Sie greift auf Pierre Bourdieus Theorie der ästhetischen Autonomie und (quasi) "unmöglichen" posture (16) zurück und interpretiert die künstlerische Positionierung der Autorin mittels Bourdieus Habitusmodell als einen durch ihre soziale Biografie bedingten "gespaltenen Habitus": "Jelineks Konzeption ästhetischer Erfahrung ist ihrer familiären Erfahrung […] homolog" (17). Weiters stützt Degner sich auf Jerôme Meizozs Begriff der "autorschaftliche[n] posture" im literarischen Feld (14) um zu zeigen, unter welchen feldspezifischen Bedingungen sich eine nicht vorhersehbare [End Page 122] neue ("unmögliche", paradoxe) Ästhetik etablieren könne und wie relativ unkontrollierbar die Entstehung dieser neuen künstlerischen Position ist (16). Schließlich führt Degner die Anagnorisis (Aha-Effekt) als besonders sinnvoll für ihre autor-werkzentrierte Rekonstruktion der literarischen Genealogie Elfriede Jelineks an und gibt zu verstehen, die Anagnorisis für Jelineks Ästhetik bedeute nicht das Wiedererkennen, sondern die Umwandlung von Unkenntnis in Kenntnis (21). Dem Einleitungskapitel, in dem am Ende auf Verena Hollers "literarisches Feld Österreich" aufmerksam gemacht und der derzeitige Forschungsstand zu Jelineks Oeuvre knapp umrissen wird, folgen in acht Kapitel über 300 Seiten Degners interessante close readings und aufschlussreiche narratologische Analysen von Wir sind Lockvögel Baby! (Kap. 1), Die Liebhaberinnen (Kap. 2), Die Ausgesperrten (Kap. 3), Die Klavierspielerin (Kap. 5), Lust (Kap. 6), Burgtheater (Kap. 7) und Neid (Kap. 8). Degner führt an diesen Werken eine spannende "Anamnese ihre[r] feldsoziologischen Distinktionswerte […]" (327) durch. Damit gelingt es ihr "relevante ästhetisch-kulturelle Kontexte und ihre Korrelierung zur jeweiligen paradoxen Autorschaftspositionierung Jelineks" (14) offenzulegen und aufgrund dieser Kombination die Bestimmung der ästhetischen Individualität der jeweiligen Werke zu präzisieren. Besonders reizvoll sind die Neuinterpretationen, vor allem deshalb, weil Degner immer wieder Jelineks Kurzprosa (sowohl in den bekannten als auch in seltener rezipierten Essays) untersucht und auch dort Aussagen herausliest und Beweise aufdeckt, die ihre Argumentation verfestigen (siehe Literaturverzeichnis 333–36). Darüber hinaus verdeutlicht sie mittels ihrer ausführlichen Darstellungen der polemisch-konfrontierenden paradoxen posture Jelineks, die sich bereits im 1969 (zusammen mit Wilhelm Zobl) verfassten Offenen Brief gegen die Auffassung der Grazer Avantgarde (Kolleritsch, Handke, u.a.: Kunst kann gesellschaftsverändernd wirken) und in Jelineks Mitarbeit im Arbeitskreis österreichischer Literaturproduzenten manifestierte (83–91), dass die innovative Ästhetik der Autorin von Anfang an als häretische Waffe zu verstehen sei. Im Kapitel 4 setzt sich Degner mit Jelineks feministischem Engagement auseinander und stellt in diesem Zusammenhang ebenfalls fest: die feministische posture Jelineks ist "vor allem eine häretische, die sich provokativ gegen kursierende Doxai des Feminismus wendet" (173). Degner findet dafür frühe Beweise in den zwischen 1977 und 1987 in der Berliner radikalfeministischen Zeitschrift Schwarze Botin veröffentlichten Beiträgen Jelineks [End Page 123] ("wo der klebrige Schleim weiblicher Zusammengehörigkeit sein Ende hat", 173) und veranschaulicht einerseits die kritische Haltung der Autorin gegen die écriture féminine des französischen intellektuellen Feminismus und Ablehnung der sogenannten Frauenliteratur von u.a. Verena Stefan und Brigitte Schwaiger (180–84) und andererseits Jelineks Befürwortung der progressiven feministischen Avantgardekunst der Medien- und Performancekünstlerin VALIE EXPORT. Jelinek mit ihrem kompromisslosen Feminismus...
一种令人难以置信的美文(评论)
Verena Stefan和碧姬特·施威格(1884年),另一方面,Jelineks却在媒体和表演艺术家VALIE出口中还有她那强硬的女权主义
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来源期刊
Journal of Austrian Studies
Journal of Austrian Studies HUMANITIES, MULTIDISCIPLINARY-
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期刊介绍: The Journal of Austrian Studies is an interdisciplinary quarterly that publishes scholarly articles and book reviews on all aspects of the history and culture of Austria, Austro-Hungary, and the Habsburg territory. It is the flagship publication of the Austrian Studies Association and contains contributions in German and English from the world''s premiere scholars in the field of Austrian studies. The journal highlights scholarly work that draws on innovative methodologies and new ways of viewing Austrian history and culture. Although the journal was renamed in 2012 to reflect the increasing scope and diversity of its scholarship, it has a long lineage dating back over a half century as Modern Austrian Literature and, prior to that, The Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association.
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GB/T 7714-2015
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