{"title":"Ménage à trois: Theatertransfer zwischen Paris und dem geteilten Berlin nach dem Mauerbau","authors":"N. Colin","doi":"10.1515/9783110733495-002","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Äußerung des bekannten ehemaligen französischen Kulturministers Jack Lang über das deutsche Theater der 1960er und 1970er Jahre erscheint bemerkenswert, und zwar in dreifacher Hinsicht. Zum einen überrascht die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der Lang hier dem geteilten Berlin den Titel Theatermetropole zuerkennt. Immerhin herrschte in der wechselseitigen Wahrnehmung bis weit über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus im deutsch-französischen Kulturaustausch eine klare strukturelle Asymmetrie zugunsten Frankreichs – im Bereich der bildenden Kunst ebenso wie in der Literatur und dem Theater. Die Tatsache, dass Paris weltweit als unangefochtene Hauptstadt der Kultur galt, hatte in der französischen Kulturszene eine gewisse Arroganz und Ignoranz gegenüber dem Nachbarn auf der anderen Rheinseite befördert: Die bedeutenden Maler des deutschen Expressionismus wurden beispielsweise erst in den 1960er Jahren in Frankreich entdeckt, von anderen Kunstrichtungen ganz zu schweigen.2 Das deutsche Theater war noch in den 1930er Jahren weitgehend unbekannt oder erschien inkompatibel mit dem französischen Geschmack: So stellte die französische Erstaufführung der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht 1930 am Théâtre Montparnasse in Paris für den bekannten Regisseur Gaston Baty einen der größten Reinfälle seiner Karriere dar.3 Darüber hinaus deutet Langs Hinweis auf das Berliner Ensemble indirekt aber auch darauf, dass die französische Entdeckung des deutschen Theaters keinesfalls in der Bundesrepublik, sondern in der DDR begann; westdeutsche Starregisseure – wie der erwähnte Peter Stein – gerieten erst deutlich später, in den 1970er Jahren, in den Fokus des französischen Interesses. Diese Zirkulationsbewegung von Ost nach West irritiert","PeriodicalId":441050,"journal":{"name":"Berliner Weltliteraturen","volume":"76 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-08-09","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berliner Weltliteraturen","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110733495-002","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Äußerung des bekannten ehemaligen französischen Kulturministers Jack Lang über das deutsche Theater der 1960er und 1970er Jahre erscheint bemerkenswert, und zwar in dreifacher Hinsicht. Zum einen überrascht die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der Lang hier dem geteilten Berlin den Titel Theatermetropole zuerkennt. Immerhin herrschte in der wechselseitigen Wahrnehmung bis weit über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus im deutsch-französischen Kulturaustausch eine klare strukturelle Asymmetrie zugunsten Frankreichs – im Bereich der bildenden Kunst ebenso wie in der Literatur und dem Theater. Die Tatsache, dass Paris weltweit als unangefochtene Hauptstadt der Kultur galt, hatte in der französischen Kulturszene eine gewisse Arroganz und Ignoranz gegenüber dem Nachbarn auf der anderen Rheinseite befördert: Die bedeutenden Maler des deutschen Expressionismus wurden beispielsweise erst in den 1960er Jahren in Frankreich entdeckt, von anderen Kunstrichtungen ganz zu schweigen.2 Das deutsche Theater war noch in den 1930er Jahren weitgehend unbekannt oder erschien inkompatibel mit dem französischen Geschmack: So stellte die französische Erstaufführung der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht 1930 am Théâtre Montparnasse in Paris für den bekannten Regisseur Gaston Baty einen der größten Reinfälle seiner Karriere dar.3 Darüber hinaus deutet Langs Hinweis auf das Berliner Ensemble indirekt aber auch darauf, dass die französische Entdeckung des deutschen Theaters keinesfalls in der Bundesrepublik, sondern in der DDR begann; westdeutsche Starregisseure – wie der erwähnte Peter Stein – gerieten erst deutlich später, in den 1970er Jahren, in den Fokus des französischen Interesses. Diese Zirkulationsbewegung von Ost nach West irritiert