{"title":"„Ich komme aus der […] Hartungstraße.“ Hamburg als unheimliche Heimat in Viola Roggenkamps Familienleben (2004) und in Maxim Billers Biografie (2016)","authors":"L. Ekelund","doi":"10.1515/yejls-2018-0012","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"„Ich will in diesem alten, kranken Haus bleiben“, sagt klar und deutlich die Erzählerin aus jüdisch-deutscher Familie in Viola Roggenkamps Familienleben (2004) gegen Ende des Romans (Roggenkamp 2004, 325). Sie meint eine alte Villa im Hamburger Stadtteil Harvestehude, bekennt sich also nicht etwa zu einem nomadischen, transnationalen Entwurf, sondern zu dem Wunsch, sich zu verwurzeln, in Hamburg und auch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft des Jahres 1967, für die das ‚kranke Haus‘ metonymisch steht. Der Erzähler von Maxim Billers Roman Biografie (2016) stellt am Ende einer langen Reihe schneller Ortswechsel von Prag über Hamburg nach Berlin, LA, New York und Israel ausgerechnet in Buczacz, der Geburtsstadt seines Vaters, fest: „Ich komme aus der Italská und aus der Hartungstraße.“ (Biller 2016, 885) Mit der Absage an Buczacz als Herkunftsort und der Benennung der beiden Straßen in Prag und Hamburg, in denen der Erzähler seine Kindheit verbrachte, macht er sich, wie von Andreas Kilcher für die bewusst in Deutschland gebliebenen jüdischen Autoren beschrieben, zu einem Chronisten der „Schwierigkeiten und Disharmonien der ‚negativen Symbiose‘“ (Kilcher 2002, 134). Durch das Bleiben in Hamburg ebenso wie durch die dort situierte Herkunft wird die Stadt in beiden Romanen neu als Ort jüdischer Kindheit und Adoleszenz nach der Shoah kartographiert. Doch steht hinter der Herkunft stets die Vertreibung, ist die Verortung, das Bleiben, immer durch Mobilität, Migration und Exil in der jeweiligen Familiengeschichte sowohl grundiert als auch gerahmt: So reflektiert die Erzählerin in Familienleben über nach Israel und in die DDR ausgewanderte Verwandte und den Wunsch ihrer Eltern, unmittelbar nach Kriegsende ebenfalls nach Israel zu gehen, was jedoch wegen ihres nichtjüdischen Vaters nicht möglich war (Roggenkamp 2004, 186). Sie erzählt die Geschichte ihrer Vorfahren, die zugleich die Geschichte der Hamburger ashkenasischen und sephardischen Juden ist, als von Exil und Verlust geprägt:","PeriodicalId":265278,"journal":{"name":"Yearbook for European Jewish Literature Studies","volume":"4 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2018-10-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Yearbook for European Jewish Literature Studies","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/yejls-2018-0012","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
„Ich will in diesem alten, kranken Haus bleiben“, sagt klar und deutlich die Erzählerin aus jüdisch-deutscher Familie in Viola Roggenkamps Familienleben (2004) gegen Ende des Romans (Roggenkamp 2004, 325). Sie meint eine alte Villa im Hamburger Stadtteil Harvestehude, bekennt sich also nicht etwa zu einem nomadischen, transnationalen Entwurf, sondern zu dem Wunsch, sich zu verwurzeln, in Hamburg und auch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft des Jahres 1967, für die das ‚kranke Haus‘ metonymisch steht. Der Erzähler von Maxim Billers Roman Biografie (2016) stellt am Ende einer langen Reihe schneller Ortswechsel von Prag über Hamburg nach Berlin, LA, New York und Israel ausgerechnet in Buczacz, der Geburtsstadt seines Vaters, fest: „Ich komme aus der Italská und aus der Hartungstraße.“ (Biller 2016, 885) Mit der Absage an Buczacz als Herkunftsort und der Benennung der beiden Straßen in Prag und Hamburg, in denen der Erzähler seine Kindheit verbrachte, macht er sich, wie von Andreas Kilcher für die bewusst in Deutschland gebliebenen jüdischen Autoren beschrieben, zu einem Chronisten der „Schwierigkeiten und Disharmonien der ‚negativen Symbiose‘“ (Kilcher 2002, 134). Durch das Bleiben in Hamburg ebenso wie durch die dort situierte Herkunft wird die Stadt in beiden Romanen neu als Ort jüdischer Kindheit und Adoleszenz nach der Shoah kartographiert. Doch steht hinter der Herkunft stets die Vertreibung, ist die Verortung, das Bleiben, immer durch Mobilität, Migration und Exil in der jeweiligen Familiengeschichte sowohl grundiert als auch gerahmt: So reflektiert die Erzählerin in Familienleben über nach Israel und in die DDR ausgewanderte Verwandte und den Wunsch ihrer Eltern, unmittelbar nach Kriegsende ebenfalls nach Israel zu gehen, was jedoch wegen ihres nichtjüdischen Vaters nicht möglich war (Roggenkamp 2004, 186). Sie erzählt die Geschichte ihrer Vorfahren, die zugleich die Geschichte der Hamburger ashkenasischen und sephardischen Juden ist, als von Exil und Verlust geprägt: