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Abstract
Nach dem Mauerbau war Berlin eine doppelt isolierte Metropole. Aus ostdeutscher Perspektive handelte es sich – der offiziellen Wendung zufolge – um die Befestigung der Staatsgrenze durch einen ‚antifaschistischen Schutzwall‘. Für Kulturschaffende im Osten, die wie Stefan Hermlin den Mauerbau als Akt der Verteidigung rechtfertigten,1 mochte sich die Schließung der Grenze zunächst mit der Hoffnung auf größere Freiheit im eigenen Land verbinden, weil man jetzt ‚unter sich‘ war und ‚alles sagen‘ konnte. De facto bedeutete sie aber nicht nur die Einsperrung der eigenen Bürger, sondern auch die Selbstisolation der DDR und nicht zuletzt eine kulturelle Abschottung. Eingemauert waren wiederum auch und erst recht die drei westlichen Sektoren Berlins, umschlossen durch die DDR. Für den Westteil der Stadt drohten in der Folge Abwanderung, schwindende Wirtschaftskraft, kulturelle Marginalisierung: die Bedeutungslosigkeit und Provinzialität einer insularen Stadt. Auf beiden Seiten der Grenze brachte diese Situation ein gesteigertes Bemühen um kulturelle Geltung hervor. Ein wichtiges Mittel in diesem Bemühen war die Förderung internationaler Kontakte. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die grundlegende These des vorliegenden Bandes, der zufolge die Mauer, so paradox dies klingen mag, als Katalysator für die Internationalisierung des Literaturund Kulturbetriebs wirkte. Sie war ein entscheidender Akteur in jener Entwicklungsphase, in der Berlin mit Blick auf die transnationale Ausweitung des Literaturbetriebs eine Vorreiterfunktion übernahm. Zwar gab es auch schon in den 1950er Jahren internationale Aktivitäten auf Berliner Boden: So wurden beispielsweise 1951 im Westteil der Stadt die Berliner Festwochen gegründet, die jährlich stattfindenden internationalen Festspiele vor allem für Musik und Theater, auf die 1957 – sechs Jahre später – die Parallelgründung der Berliner Festtage im Ostteil der Stadt folgte. Bereits hier zeigt sich eine Konkurrenz um Weltgeltung und das Streben, sich gegen den anderen Teil der Stadt auf dem internationalen Parkett zu behaupten.2 Dennoch lässt sich feststellen, dass 1961 auf beiden Seiten der Mauer eine intensivierte Phase der kulturpolitischen „Aufrüstung“ begann, in deren Zentrum die gezielte Förderung internationaler literarischer und künstlerischer Kontakte stand.