{"title":"Zur Entstehung von Literaturen zwischen zwei Welten","authors":"","doi":"10.1515/9783110703443-012","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Gestatten Sie mir an dieser Stelle, einige kritische und selbstkritische Überlegungen zur Textsorte der Vorlesung und mehr noch zu einer Vorlesung über Literaturgeschichte anzustellen, die in Zusammenhang mit den soeben gestellten Fragen stehen! Denn dass es sich bei dieser Vorlesung über das 19. Jahrhundert zwischen zwei Welten um eine literarhistorische Vorlesung handelt, wird wohl niemand prinzipiell bestreiten wollen – auch nicht der Verfasser dieser Zeilen. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass bereits die Gattung oder Textsorte „Vorlesung“ eine für alle Beteiligten nicht nur schwierige und anspruchsvolle, sondern vor allem ebenso verantwortungswie widerspruchsvolle ist. Eine Vorlesung ist für mich persönlich – dies verberge ich Ihnen nicht – die schwierigste und zugleich großartigste der akademischen Übungen, denen sich ein Hochschullehrer bei der Anfertigung seiner nicht zuletzt auch didaktischen Materialien für die Studierenden unterziehen darf. Denn eine Vorlesung versucht – ganz allgemein gesprochen – in mehr oder minder ‚traditioneller‘ Manier, ein bestimmtes Wissen über ein bestimmtes Wissensgebiet systematisch und didaktisch aufbereitet darzubieten. Dass es sich dabei im besten Falle um ein Wissen handelt, welches ein bestimmter Hochschullehrer oder eine bestimmte Hochschullehrerin im Verlaufe eines akademischen Lebens angesammelt hat, steht außer Frage. Und dies ist gleichbedeutend mit der Verpflichtung, für dieses dargebotene Wissen, das sich natürlich stets in unablässiger Bewegung und Veränderung befindet, auch zu einem gegebenen Zeitpunkt einzustehen. Eine Vorlesung ist folglich ein offener Prozess; ein Buch hingegen besitzt einen Anfang und ein Ende, es birgt und verbürgt ein bestimmtes Wissen, welches bis zu einem genauen Zeitpunkt – in unserem Falle bis zum Beginn der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts – erworben und formuliert werden konnte. Aus einer Vorlesung ein Buch und aus mehreren Vorlesungen Bücher zu machen, ist in der Tat weder risikonoch folgenlos. Dieser Punkt markiert eine Schwierigkeit und Widersprüchlichkeit, die ich Ihnen nicht verbergen wollte. Genau an dieser Stelle ergibt sich jedoch eine zweite Widersprüchlichkeit, sobald wir nicht mehr die Seite des Produzierenden, sondern der Rezipierenden genauer unter die Lupe nehmen. Denn gerade die mehr oder minder frontale Darbietungsweise verführt dazu, einer Vorlesung allenfalls zu ‚folgen‘, sie also bloß zu konsumieren, ohne selbst am Stoff zu arbeiten, sich eigenständig mit bestimmten Gegenständen zu beschäftigen, hat doch bereits ein anderer an diesem Stoff gewirkt.","PeriodicalId":169273,"journal":{"name":"Romantik zwischen zwei Welten","volume":"31 2 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-08-23","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Romantik zwischen zwei Welten","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110703443-012","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
引用次数: 0
Abstract
Gestatten Sie mir an dieser Stelle, einige kritische und selbstkritische Überlegungen zur Textsorte der Vorlesung und mehr noch zu einer Vorlesung über Literaturgeschichte anzustellen, die in Zusammenhang mit den soeben gestellten Fragen stehen! Denn dass es sich bei dieser Vorlesung über das 19. Jahrhundert zwischen zwei Welten um eine literarhistorische Vorlesung handelt, wird wohl niemand prinzipiell bestreiten wollen – auch nicht der Verfasser dieser Zeilen. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass bereits die Gattung oder Textsorte „Vorlesung“ eine für alle Beteiligten nicht nur schwierige und anspruchsvolle, sondern vor allem ebenso verantwortungswie widerspruchsvolle ist. Eine Vorlesung ist für mich persönlich – dies verberge ich Ihnen nicht – die schwierigste und zugleich großartigste der akademischen Übungen, denen sich ein Hochschullehrer bei der Anfertigung seiner nicht zuletzt auch didaktischen Materialien für die Studierenden unterziehen darf. Denn eine Vorlesung versucht – ganz allgemein gesprochen – in mehr oder minder ‚traditioneller‘ Manier, ein bestimmtes Wissen über ein bestimmtes Wissensgebiet systematisch und didaktisch aufbereitet darzubieten. Dass es sich dabei im besten Falle um ein Wissen handelt, welches ein bestimmter Hochschullehrer oder eine bestimmte Hochschullehrerin im Verlaufe eines akademischen Lebens angesammelt hat, steht außer Frage. Und dies ist gleichbedeutend mit der Verpflichtung, für dieses dargebotene Wissen, das sich natürlich stets in unablässiger Bewegung und Veränderung befindet, auch zu einem gegebenen Zeitpunkt einzustehen. Eine Vorlesung ist folglich ein offener Prozess; ein Buch hingegen besitzt einen Anfang und ein Ende, es birgt und verbürgt ein bestimmtes Wissen, welches bis zu einem genauen Zeitpunkt – in unserem Falle bis zum Beginn der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts – erworben und formuliert werden konnte. Aus einer Vorlesung ein Buch und aus mehreren Vorlesungen Bücher zu machen, ist in der Tat weder risikonoch folgenlos. Dieser Punkt markiert eine Schwierigkeit und Widersprüchlichkeit, die ich Ihnen nicht verbergen wollte. Genau an dieser Stelle ergibt sich jedoch eine zweite Widersprüchlichkeit, sobald wir nicht mehr die Seite des Produzierenden, sondern der Rezipierenden genauer unter die Lupe nehmen. Denn gerade die mehr oder minder frontale Darbietungsweise verführt dazu, einer Vorlesung allenfalls zu ‚folgen‘, sie also bloß zu konsumieren, ohne selbst am Stoff zu arbeiten, sich eigenständig mit bestimmten Gegenständen zu beschäftigen, hat doch bereits ein anderer an diesem Stoff gewirkt.