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Abstract
Als Wissenschaftler einer noch jungen Disziplin über Commons zu schreiben ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst ist da die Verzögerung, mit der das Thema überhaupt ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt ist. Wieso ist das nicht bereits vor 50 Jahren geschehen? Warum brauchten wir so lange, um jene Hindernisse zu überwinden, die uns unfähig machten, soziale Phänomene als Commons-Phänomene zu erkennen und zu denken? Ich konnte viele Fragen beantworten, ich schrieb bereits im Paradigma des Teilens, und doch war es mir unmöglich, die Fragen so zu stellen, dass ich meine Themen in einer Commons-Terminologie hätte verstehen oder verfassen können. Das zweite Problem ist, dass es eine Art Dominoeffekt auslöst, wenn man die Commons-Akte öffnet. Sobald der erste Stein fällt, gerät das Ideenfundament, auf dem die moderne westliche Zivilisation ruht, außer Balance, und das fundiert Geglaubte stürzt in sich zusammen: Staat, Recht, Markt, Nation, Arbeit, Verträge, Schulden, juristische Person, Privateigentum und Institutionen wie Verwandtschaft, Eheund Erbrecht werden plötzlich hinterfragt. Wir halten diese oft für allgemeingültig, doch im interkulturellen Vergleich sind sie nur eine Sitte (»folkway«), die unsere moderne, westliche Rechtstradition (»folklaw«) geprägt hat. Das dritte Problem schließlich hat mit dem hochpolitischen, gar polemischen Charakter der zeitgenössischen Commons-Debatte zu tun, wie sie in Frankreich derzeit in der Publikation Commun von Pierre Laval und Christian Dardot ihren Ausdruck findet. Schon der Untertitel spricht eine klare Sprache: »Essay über die Revolution im 21. Jahrhundert«. Die Autoren bringen wichtige Fragen zurück in die wissenschaftliche Diskussion, Fragen, die Karl Marx schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufgeworfen hatte, als er über die Bedeutung und die Rolle des Kapitals reflektierte. Die derzeitige Aufmerksamkeit für Commons legt es nahe, sich diesen Problemen der Reihe nach zu widmen, doch eines vorweg: Theoretisch könnten Commons eine Alternative zu Markt und Staat darstellen, doch praktisch sind wir weit von dieser Alternative entfernt.