{"title":"Warum und wozu es literatur für leser:innen gab und immer noch gibt. Ein Blick in die Historie eines literaturwissenschaftlichen Periodikums","authors":"B. Spies","doi":"10.3726/lfl.2020.01.04","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Literatur für Leser wurde 1978 von Rolf Geißler und Herbert Kaiser gegründet. Das Periodikum trug in den ersten 10 Jahrgängen den programmatischen Untertitel: Zeitschrift für Interpretationspraxis und geschichtliche Texterkenntnis. Diese Schwerpunktsetzung\n auf die intensive Auseinandersetzung mit literarischen Texten nach den Verfahrensweisen der Hermeneutik erfolgte im Kontext der lebhaften Methodendebatte, die im Jahrzehnt nach 1968 in den Literatur- und Sozialwissenschaften mit oft leidenschaftlicher Anteilnahme geführt wurde. In diesen\n Auseinandersetzungen entstanden zahlreiche Zeitschriften, in denen sich wissenschaftspolitische Interessen bzw. theoretische Positionen Foren ihrer internen Debatte wie der Profilierung nach außen schufen. LfL ist ein Resultat der Spätphase dieser umfassenden theoretischen\n Selbstreflexion, ein Dokument dafür, wie die umfassende Selbst-Infragestellung aller Geisteswissenschaften von der Polemik gegen die überkommenen wissenschaftlichen Methoden übergeht zu einer Kritik an der Radikalität ihrer eigenen Opposition, um aus dieser partiellen Selbstkritik\n mehr oder minder neue Positionsbestimmungen zu entwickeln. Die engagierten Debatten der 1970er Jahre kreisten um Fragen, in denen das Verhältnis von Sprache und Literatur zur Gesellschaft eine zentrale Rolle spielte, wobei nicht selten beide Seiten dieses Verhältnisses im Modus des\n Potenzialis verhandelt wurden: So ging es um die Gesellschaft im Hinblick auf ihre Reformpotenzen, zu deren Realisierung ihr eine Literatur verhelfen sollte, die dazu erst noch ihre eigenen emanzipativen Momente identifizieren oder überhaupt erst entwickeln sollte, oder umgekehrt um die\n Literatur als historischen Ausdruck des Entwicklungspotenzials der Gesellschaft, in der Verlängerung dieser Idee um die notwendigen Eigenschaften von Literatur, die dieser historischen Potenz zum Durchbruch verhelfen könnten… Rolf Geißler, von dem später der stärkste\n Impuls zur Gründung von LfL ausging, war zunächst einer der Protagonisten in der literaturdidaktischen Sektion dieser Programmdebatte, die nicht unwesentlich durch ihn geprägt worden war, ganz entsprechend dem Gewicht der Didaktik als einer der Wissenschaften, die sich\n der im Kontext der Grundsatzdebatten über Rolle und Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften durchaus relevanten Erforschung und Beförderung von Bildung und Wissensvermittlung verschrieben hatten. Geißlers Theorie der Deutschdidaktik ist eines der damals prominentesten\n Dokumente dieses anspruchsvollen Versuchs, die Vermittlung sprachlich-literarischer Bildung zu verwissenschaftlichen und damit deren umfassender Relevanz gerecht zu werden. Es war eben diese Anstrengung bzw. deren mittlerweile erzielten Resultate, die Geißler ab 1977 zu einer Selbstkorrektur\n veranlassten: Die jüngsten Entwicklungen nicht nur der Vermittlungswissenschaften erregten in ihm den Verdacht der theoretischen Einseitigkeit, vor allem der Subsumtion der Literatur unter abstrakt-theoretische Konzepte. Was Geißler einleiten wollte, war nicht das Ende der Deutschdidaktik,\n wohl aber eine Kurskorrektur, nämlich die – erneute – Orientierung an hermeneutischen Positionen, die sich im Jahrzehnt zuvor als Antipoden der verschiedenen Versuche einer eher sozialtheoretisch orientierten Verwissenschaftlichung des Umgangs mit Literatur profiliert hatten.\n Die programmatischen Stichwörter des Untertitels – Interpretationspraxis und geschichtliche Texterkenntnis – stehen für die Verschiebung des letzten Regulativs der Befassung mit Literatur, anders gesagt: des Kriteriums ihrer Verbindlichkeit, weg von den\n theoretisch-idealistisch gefassten Konzepten von Literatur und Gesellschaft hin zur Unhintergehbarkeit des in der Literatur vorliegenden historischen Sinns. Insofern war es einerseits ein historischer Zufall, andererseits aber inhaltlich passend, dass die Zeitschrift viele Jahre lang im Oldenbourg-Verlag\n (München) erschien, der auf Pädagogik und namentlich auf Schulbücher spezialisiert war.","PeriodicalId":280788,"journal":{"name":"Literatur für Leser","volume":"91 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2022-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Literatur für Leser","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.3726/lfl.2020.01.04","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Literatur für Leser wurde 1978 von Rolf Geißler und Herbert Kaiser gegründet. Das Periodikum trug in den ersten 10 Jahrgängen den programmatischen Untertitel: Zeitschrift für Interpretationspraxis und geschichtliche Texterkenntnis. Diese Schwerpunktsetzung
auf die intensive Auseinandersetzung mit literarischen Texten nach den Verfahrensweisen der Hermeneutik erfolgte im Kontext der lebhaften Methodendebatte, die im Jahrzehnt nach 1968 in den Literatur- und Sozialwissenschaften mit oft leidenschaftlicher Anteilnahme geführt wurde. In diesen
Auseinandersetzungen entstanden zahlreiche Zeitschriften, in denen sich wissenschaftspolitische Interessen bzw. theoretische Positionen Foren ihrer internen Debatte wie der Profilierung nach außen schufen. LfL ist ein Resultat der Spätphase dieser umfassenden theoretischen
Selbstreflexion, ein Dokument dafür, wie die umfassende Selbst-Infragestellung aller Geisteswissenschaften von der Polemik gegen die überkommenen wissenschaftlichen Methoden übergeht zu einer Kritik an der Radikalität ihrer eigenen Opposition, um aus dieser partiellen Selbstkritik
mehr oder minder neue Positionsbestimmungen zu entwickeln. Die engagierten Debatten der 1970er Jahre kreisten um Fragen, in denen das Verhältnis von Sprache und Literatur zur Gesellschaft eine zentrale Rolle spielte, wobei nicht selten beide Seiten dieses Verhältnisses im Modus des
Potenzialis verhandelt wurden: So ging es um die Gesellschaft im Hinblick auf ihre Reformpotenzen, zu deren Realisierung ihr eine Literatur verhelfen sollte, die dazu erst noch ihre eigenen emanzipativen Momente identifizieren oder überhaupt erst entwickeln sollte, oder umgekehrt um die
Literatur als historischen Ausdruck des Entwicklungspotenzials der Gesellschaft, in der Verlängerung dieser Idee um die notwendigen Eigenschaften von Literatur, die dieser historischen Potenz zum Durchbruch verhelfen könnten… Rolf Geißler, von dem später der stärkste
Impuls zur Gründung von LfL ausging, war zunächst einer der Protagonisten in der literaturdidaktischen Sektion dieser Programmdebatte, die nicht unwesentlich durch ihn geprägt worden war, ganz entsprechend dem Gewicht der Didaktik als einer der Wissenschaften, die sich
der im Kontext der Grundsatzdebatten über Rolle und Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften durchaus relevanten Erforschung und Beförderung von Bildung und Wissensvermittlung verschrieben hatten. Geißlers Theorie der Deutschdidaktik ist eines der damals prominentesten
Dokumente dieses anspruchsvollen Versuchs, die Vermittlung sprachlich-literarischer Bildung zu verwissenschaftlichen und damit deren umfassender Relevanz gerecht zu werden. Es war eben diese Anstrengung bzw. deren mittlerweile erzielten Resultate, die Geißler ab 1977 zu einer Selbstkorrektur
veranlassten: Die jüngsten Entwicklungen nicht nur der Vermittlungswissenschaften erregten in ihm den Verdacht der theoretischen Einseitigkeit, vor allem der Subsumtion der Literatur unter abstrakt-theoretische Konzepte. Was Geißler einleiten wollte, war nicht das Ende der Deutschdidaktik,
wohl aber eine Kurskorrektur, nämlich die – erneute – Orientierung an hermeneutischen Positionen, die sich im Jahrzehnt zuvor als Antipoden der verschiedenen Versuche einer eher sozialtheoretisch orientierten Verwissenschaftlichung des Umgangs mit Literatur profiliert hatten.
Die programmatischen Stichwörter des Untertitels – Interpretationspraxis und geschichtliche Texterkenntnis – stehen für die Verschiebung des letzten Regulativs der Befassung mit Literatur, anders gesagt: des Kriteriums ihrer Verbindlichkeit, weg von den
theoretisch-idealistisch gefassten Konzepten von Literatur und Gesellschaft hin zur Unhintergehbarkeit des in der Literatur vorliegenden historischen Sinns. Insofern war es einerseits ein historischer Zufall, andererseits aber inhaltlich passend, dass die Zeitschrift viele Jahre lang im Oldenbourg-Verlag
(München) erschien, der auf Pädagogik und namentlich auf Schulbücher spezialisiert war.