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Abstract
Zweifellos spielt Musik in vielen, vielleicht allen religiösen Traditionen und Kulturen der Welt eine fundamentale Rolle, aber wie wir ebenfalls wissen, war das Verhältnis zwischen Religion und Musik nicht immer ganz einfach, teilweise skeptisch bis ablehnend, oft hoch ambivalent, z. B. im alten China oder in der islamischen Welt. Im hinduistischen Indien ist dies anders. Wohl keine andere große Religionskultur oder sogenannte „Weltreligion“ hat ein so ungebrochenes und geradezu symbiotisches Verhältnis zur Musik entwickelt wie der klassische Hinduismus. Dies ist nicht zuletzt einer ausgesprochen klangzentrierten Lebenswelt zu verdanken und einer außergewöhnlich hohen Wertschätzung des Klanglichen, welche die vielen Hindu-Traditionen quer durch die Jahrhunderte wie ein rotes Band verbindet.1 Diese hohe Wertschätzung beginnt damit, dass religiöse Texte in der gelebten Praxis kaum still gelesen oder nur reflektiert, sondern auch vokalisiert, deklamiert, rezitiert, gesungen und sogar getanzt werden, dass der übliche devotionale Text eine Lieddichtung ist, und dass es eine Reihe musizierender und tanzender Gottheiten gibt, wie die Göttin Sarasvatī und die großen Götter Śiva und Kṛṣṇa, mit denen vielfältige religiöse Vorstellungen von Klang und Musik zur Darstellung kommen. Der erste Teil dieses Artikels soll in diese kulturelle Matrix einführen, für die es typisch ist, dass Sprache, Musik und Bewusstsein/Lebendigkeit als untrennbare Einheit wahrgenommen werden. Im zweiten Teil wird das indische Musikverständnis detaillierter reflektiert. Hierzu gehört nicht nur, dass sich Musik (saṅgīta) klassischerweise dadurch definiert, Emotionen auszulösen und Freude, Verzückung und Absorption herbeizuführen. Vielmehr wird Musik auch mit dem Nāda-Brahman („Klangbrahman“) assoziiert, der Idee eines klanglichen absoluten göttlichen Seins, das die Welt durchdringt und in der Musik, insbesondere der Rāga-Musik, unmittelbar sinnlich und emotional erfahrbar ist. In gewisser Hinsicht ist das komplexe Nāda-Brahman-Konzept Kulminationsund Höhepunkt der indischen Klangzentriertheit. Musik wird hier zum Schlüssel des Weltganzen und eine besonders angenehme Form von Yoga.