{"title":"Julio Cortázar oder die Auflösung der Unilinearität des Buches","authors":"","doi":"10.1515/9783110703450-027","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Wir hatten im bisherigen Verlauf unserer Vorlesung gesehen, dass die Linearität des Schreibens und die Unilinearität des Buches bereits für die historischen Avantgarden ein Ärgernis und mehr noch eine künstlerisch-literarische Herausforderung bildeten, an der sich auch die von den Avantgarden inspirierten Schriftsteller ein ums andere Mal abarbeiteten. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die historische Entwicklung all jener Lösungsversuche aufzuarbeiten, welche in langen Jahrhunderten immer wieder erarbeitet wurden und in deren Geschichte die Namen etwa eines Alexander von Humboldt oder eines Fernando Ortiz – auf den ich noch kurz zurückkommen werde – nicht fehlen dürfen. Die oszillierende Bewegung zwischen verschiedenen Kapiteln und Textteilen wie vor allem auch die Infragestellung der Linearität des Buches wurde in großer Radikalität aber von einem Autor betrieben, den ich Ihnen jetzt vorstellen möchte. Es handelt sich dabei um einen argentinischen Schriftsteller, mit dem wir wieder auf jene Seite des Atlantiks zurückkehren, auf welcher Jorge Luis Borges von Buenos Aires aus wichtige Impulse für die Entwicklung der Literatur wie für die Ausgestaltung der Literaturen der Welt setzte. Doch wäre es ungerecht, einen Julio Cortázar in den Schatten von Jorge Luis Borges zu stellen. Denn dieser außergewöhnlich kreative Schriftsteller entfaltete mit seiner literarischen Praxis wie mit seiner theoriefreudigen Essayistik doch eine so eigenständige Position, welche zwar mit Borges in einigen Punkten übereinstimmte, in anderen aber ganz grundlegend von Überlegungen und Stellungnahmen seines Landsmannes abwich, so dass er heute als eine der ganz großen Gestalten der lateinamerikanischen Literaturen gelten darf. Ich möchte Ihnen aus dem riesigen Gesamtwerk des Argentiniers an erster Stelle den Roman Rayuela vorstellen, der für uns in vielfacher Weise vorbildgebend ist und zugleich die literarische Entwicklung in einer Richtung vorantrieb, wie sie für unsere Perspektivik in der Tat entscheidend ist. Denn es handelt sich um einen Roman, der die beiden Seiten des Atlantiks miteinander zu verbinden sucht und auf diese Weise eine neue Welt der Literatur in einem Zwischenraum und mehr noch in einem Bewegungsraum schafft, der in seiner Ausgestaltung poetologisch – und ich würde auch sagen epistemologisch – modellbildend wirkte. Zugleich entfaltet er durch die Vielzahl intertextueller Relationen einen literarischen Raum, der vergleichbar ist mit den „Anales“ in Max Aubs gefälschter Künstlerbiographie Jusep Torres Campalans. Dort hatten die Lagererfahrung und mehr noch das Exil eine wichtige Rolle bei der Herstellung dieses komplexen und transatlantisch breit gefächerten","PeriodicalId":427497,"journal":{"name":"Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne","volume":"4 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-02-08","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110703450-027","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Wir hatten im bisherigen Verlauf unserer Vorlesung gesehen, dass die Linearität des Schreibens und die Unilinearität des Buches bereits für die historischen Avantgarden ein Ärgernis und mehr noch eine künstlerisch-literarische Herausforderung bildeten, an der sich auch die von den Avantgarden inspirierten Schriftsteller ein ums andere Mal abarbeiteten. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die historische Entwicklung all jener Lösungsversuche aufzuarbeiten, welche in langen Jahrhunderten immer wieder erarbeitet wurden und in deren Geschichte die Namen etwa eines Alexander von Humboldt oder eines Fernando Ortiz – auf den ich noch kurz zurückkommen werde – nicht fehlen dürfen. Die oszillierende Bewegung zwischen verschiedenen Kapiteln und Textteilen wie vor allem auch die Infragestellung der Linearität des Buches wurde in großer Radikalität aber von einem Autor betrieben, den ich Ihnen jetzt vorstellen möchte. Es handelt sich dabei um einen argentinischen Schriftsteller, mit dem wir wieder auf jene Seite des Atlantiks zurückkehren, auf welcher Jorge Luis Borges von Buenos Aires aus wichtige Impulse für die Entwicklung der Literatur wie für die Ausgestaltung der Literaturen der Welt setzte. Doch wäre es ungerecht, einen Julio Cortázar in den Schatten von Jorge Luis Borges zu stellen. Denn dieser außergewöhnlich kreative Schriftsteller entfaltete mit seiner literarischen Praxis wie mit seiner theoriefreudigen Essayistik doch eine so eigenständige Position, welche zwar mit Borges in einigen Punkten übereinstimmte, in anderen aber ganz grundlegend von Überlegungen und Stellungnahmen seines Landsmannes abwich, so dass er heute als eine der ganz großen Gestalten der lateinamerikanischen Literaturen gelten darf. Ich möchte Ihnen aus dem riesigen Gesamtwerk des Argentiniers an erster Stelle den Roman Rayuela vorstellen, der für uns in vielfacher Weise vorbildgebend ist und zugleich die literarische Entwicklung in einer Richtung vorantrieb, wie sie für unsere Perspektivik in der Tat entscheidend ist. Denn es handelt sich um einen Roman, der die beiden Seiten des Atlantiks miteinander zu verbinden sucht und auf diese Weise eine neue Welt der Literatur in einem Zwischenraum und mehr noch in einem Bewegungsraum schafft, der in seiner Ausgestaltung poetologisch – und ich würde auch sagen epistemologisch – modellbildend wirkte. Zugleich entfaltet er durch die Vielzahl intertextueller Relationen einen literarischen Raum, der vergleichbar ist mit den „Anales“ in Max Aubs gefälschter Künstlerbiographie Jusep Torres Campalans. Dort hatten die Lagererfahrung und mehr noch das Exil eine wichtige Rolle bei der Herstellung dieses komplexen und transatlantisch breit gefächerten