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Abstract
Spätestens seit der Kanadischen Schule – insbesondere Eric Havelock, Marshall McLuhan und Jack Goody, aber auch Vilém Flusser, Friedrich Kittler und deren Nachfolger – wird Schrift bevorzugt als technischer ›Code‹ begriffen, mittels dessen die flüchtige Stimme, ihr Ausdruck und ihre Bedeutungen aufgezeichnet, übertragen und gespeichert werden können. Dabei dominiert die These, im europäischen Kulturkreis bilde der alphabetisierte bzw. ›alphanumerische‹ SchriftCode die Grundlage für die Ausbildung der Besonderheit dieser Kultur, vor allem ihres linear-kausalen Denkens (McLuhan), der Mathematik und Philosophie (Kittler) sowie der Wissenschaften (Flusser). Diese These von der Abhängigkeit des europäisch-abendländischen Denkens und der Wissenschaft von der Linearität der Schrift bildet damit einen zentralen Topos der Medienwissenschaft.1 Jedoch basiert diese Gründungserzählung auf einem bestimmten Schriftkonzept, nämlich dem des griechischen Vokalalphabets, das als erstes die Lautstruktur der Sprache vollständig aufgezeichnet hat. Aus der vollständigen Aufzeichnung der Rede resultiert gemäß dieser These eine Logifizierung der Sprache. Insbesondere gilt dann formales logisches Denken als intrinsisch mit dem Gebrauch der Schrift verbunden. Es sei die Schrift, die Sprache und Denken so geformt habe, dass Operationen formal-logischen Denkens wie ebenso Rationalität und die Wissenschaften mit ihr, in ihr und durch sie möglich wurden. Die abendländische Metaphysik sei daran gekoppelt; und als ihr Finale, ihre äußerste Konsequenz beschränkt das kybernetische Denken Schriftlichkeit auf Entscheidungslogik, auf Information und Codierbarkeit. Es wird so ein Paradigma von Schrift aufgerufen, das in seiner Konsequenz Schrift ausschließlich von ihren mathematischen Grundlagen als Code her