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Abstract
„Eine Landstraße zwischen Mainz und Frankfurt. Leere Felder links und rechts. Und auf dem Asphalt ein Menschenzug, fast einen Kilometer lang. Neunhundert Menschen marschieren seit acht Stunden. Es regnet. Sie stemmen Transparente gegen den eiskalten Wind. Niemand, der die Transparente lesen könnte, denn ihre Träger sind allein auf der Straße. Sie ziehen über eine Brücke, eine endlose Menschenschlange.“ So szenisch beschrieb der junge Journalist Kai Herrmann für die Wochenzeitung Die Zeit im April 1964 eine offenkundig paradox anmutende Prozession im Hessischen. Ein Protestzug im Nirgendwo, fast eintausend Menschen machten sich während der besinnlichen Ostertage auf den Weg, um gegen Rüstung und für Frieden zu protestieren. Trotz des noblen Anliegens mochte dies dem Autor des Artikels nicht recht aufgehen. Zu gering erschien ihm die Unterstützung in der Bevölkerung, nicht zuletzt auch in Parteien und Gewerkschaften. Nach der Feststellung, dass die Marschierer zurückhaltend agierten, sogar die Anweisungen der Polizei befolgten, wunderte sich der Autor: „Was sind das für Leute, die während drei Feiertagen im Schneeregen marschieren und Strapazen auf sich nehmen – was für eine irrationale Reaktion von Flagellanten gegen ein übermächtiges Übel? Kommunisten und deren ‚nützliche Idioten‘ sagen die einen, idealistische Sektierer und Phantasten die anderen. Die Leute selber halten sich für die Minorität der politischen Realisten.“ Gleich wie realistisch die Ostermarschierer politisch agierten – sie bildeten fraglos das Fundament für die sozialen Bewegungen, die später überformt von der Studentenbewegung in der Ziffer 1968 verschmolzen. Tatsächlich spielen