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Abstract
„Es würde noch was geschehen. Aber was kann denn heute überhaupt noch geschehen?“, fragt Kathrin Röggla in ihrem Essay über Ulrich Peltzers Roman Alle oder keiner (1999). Sie beobachtet, indem sie, wenn auch nur implizit, die klassische Gegenüberstellung von Erzählen und Beschreiben aufruft, dass Peltzers Buch auf bemerkenswert statische Art beginnt und eine Weile in einem nicht-dynamischen Zustand verweilt – eine narrative Trägheit – bevor diese „statische[n] visuelle[n] Situationen“ sich auflösen und eine Dynamisierung erfahren. Rögglas Bemerkungen zu Peltzer sind hier insofern von Belang, als wir von ihnen ausgehend eine Poetik des Romans in nuce zutage fördern können, die über Peltzers Erzählungen als unmittelbaren Gegenstand hinausgeht.Was auf demSpiel steht, ist eine Verbindung zwischen der angeblichen Krise der Erzählung (und vielleicht des Erzählens) und der sozialpolitischen Ordnung nach 1989. Rögglas Verwendung der konjunktivischen Form „würde“ („es würde noch was geschehen“) evoziert Unsicherheit in Bezug auf die Möglichkeit, dass etwas geschehen könnte. Zugleich hält sie den Verdacht fest, dass, wenn etwas geschehen würde, es nicht die Indikativform „wird“ erfordern würde, weil letztere deutlicher erzählerische Handlung implizieren würde. Indem sie ihrer Einsicht eine literaturtheoretische Wendung marxistischer Art gibt, verbindet Röggla den erzählerischen Stillstand mit der umfassenderen historisch-ideologischen Bewegungslosigkeit, den sie zu Beginn des 21. Jahrhundert am Werk sieht. Ihre Formulierung „[a]ber was kann denn heute überhaupt noch geschehen?“ deutet auf die politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen, die die Triebfeder für erzählerische Handlung sind. Jedoch ist das im Europa nach dem Kalten Krieg offensichtlich nicht so.