{"title":"Die Europäische Union als Freiheitsgemeinschaft","authors":"F. Kainer","doi":"10.5771/9783748905776-337","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Untersuchung der verschiedenen Facetten der unionalen Freiheitsgewahrleistung zeigt, dass die Europaische Union eine vitale Freiheitsgemeinschaft ist: stark in ihrer wirtschaftlichen Binnenrichtung mit dem bewahrten und weitgehend ausentwickelten Fundament des Binnenmarktrechts, mit einem mittlerweile weitgehend ausgebauten und gefestigten Grundrechtsschutz, Ansatze von nichtwirtschaftlichen Freiheiten in der Unionsburgerschaft, Freiheitsgewahrleistungen im Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie eine Reihe von distributiv ausgerichteten „Freiheitsgewahrleistungen“, wie sie etwa die Antidiskriminierungsregelungen positivieren. Die hierin zum Ausdruck kommende Entwick-lungsdynamik der europaischen Integration ist der ursprunglich wirtschaftlichen Freiheitsge-wahrleistung und ihrer Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des Europaischen Gerichtshofs zu verdanken. Sie hat eine intergouvernemental organisierte Handelsorganisation in ein suprana-tionales Gemeinwesen verwandelt, das auf nahezu allen Politikbereichen prasent ist und dabei im Rahmen seiner Zustandigkeiten viele staatliche Funktionen wahrnimmt. Dabei unterliegt die EU zuweilen einem gewissen Hang zu freiheitseinschrankender Uberregulierung, der mit einer Kommission zum Abbau von Burokratie und einer Selbstbeschrankung der Europaischen Kommission unter ihrem Prasidenten Jean-Claude Juncker nur im Ansatz gegengesteuert wurde. Es ware vielmehr am EuGH, das Prinzip der Verhaltnismasigkeit strenger zu prufen und die Ermessensspielraume der Unionsorgane zu beschranken. \nDer erreichte Stand mit Blick auf die gegenwartigen integrationspolitischen Spannungsfelder wirft die Frage auf, welche Entwicklungspotentiale die unionale Freiheitsgemeinschaft heute noch hat. Hier muss die Einschatzung eher nachdenklich ausfallen. Es scheint vielmehr, als ob sich die Integrationsdynamik in dem Mase verringert, wie sich die Integration sachgebietlich verbreitert. Der Grund hierfur ist nicht, dass wirtschaftliche Freiheit heute weniger wichtig ist. Und nicht die Ursache, sondern vielmehr Symptom sind die gegenwartigen populistisch-nationalistischen Stromungen weltweit und in der Europaischen Union, deren eine Auspragung die Austrittskampagne in Grosbritannien reprasentiert. Es scheint eher, dass die Auf-triebskrafte des wirtschaftlichen Integrationsansatzes sachlich begrenzt sind. Lies sich die Entwicklung supranationaler Wirkungen des Unionsrechts noch unmittelbar aus dem allseits kon-sentierten Binnenmarktprinzip ableiten, musste schon die weitere Ausentwicklung der Grundfreiheiten und die Ausfaltung der Harmonisierung immer ofter an Grenzen stosen und wurde der Zusammenhang mit den Freiheiten immer dunner. Die Hinzufugung marktferner oder marktunabhangiger Politiken ohne die Schubwirkung durch gerichtlich durchsetzbare subjektive Rechte mundet in eine Politisierung der Union, die zugleich starker als fruher unterschied-liche Traditionen und Werte offenlegt. Dies zeigt sich etwa an den Zugangspolitiken oder der Sicherheitspolitik, aber auch an privatrechtlichen Materien wie dem unionalen Arbeitsrecht und sehr deutlich an Planen zu einer (Teil-)Vergemeinschaftung der Sozialsysteme. Es ist den Institutionen gleichwohl uber viele Jahre erfolgreich gelungen, den Ausbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts voranzutreiben, allerdings um den Preis erheblicher Differenzen insbesondere in der Asyl- und Fluchtlingspolitik. Auf einer anderen Ebene haben die Antidiskriminierungsrichtlinien mit erheblichen Auswirkungen in die nationalen Rechtsord-nungen hineingewirkt und manche traditionellen Gewohnheiten verandert. In der Hinaufzonung der Entscheidung uber z.T. tradierte Lebensverhaltnisse und Gewohnheiten liegt einer der Grunde, warum die Europaische Union heute als eher burgerfern verstanden wird und mancherorts an Zustimmung verliert. \nDies bedeutet in keiner Weise, dass sich die unionale Freiheitsgemeinschaft uberlebt hat, im Gegenteil: Sie hat das Potential, die Union uber die verbindenden Wirkungen von Freiheitsge-wahrleistungen zusammenzuhalten und damit politischen Entwicklungen, mogen sie vielleicht auch behutsamer sein als fruher, eine sichere Grundlage zu geben. Dahinter steht schlieslich die Einsicht, dass gemeinsame Freiheit verbindet, ihre Beschrankung aber trennt.","PeriodicalId":408121,"journal":{"name":"Kernelemente der europäischen Integration","volume":"9 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"1900-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Kernelemente der europäischen Integration","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783748905776-337","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Untersuchung der verschiedenen Facetten der unionalen Freiheitsgewahrleistung zeigt, dass die Europaische Union eine vitale Freiheitsgemeinschaft ist: stark in ihrer wirtschaftlichen Binnenrichtung mit dem bewahrten und weitgehend ausentwickelten Fundament des Binnenmarktrechts, mit einem mittlerweile weitgehend ausgebauten und gefestigten Grundrechtsschutz, Ansatze von nichtwirtschaftlichen Freiheiten in der Unionsburgerschaft, Freiheitsgewahrleistungen im Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie eine Reihe von distributiv ausgerichteten „Freiheitsgewahrleistungen“, wie sie etwa die Antidiskriminierungsregelungen positivieren. Die hierin zum Ausdruck kommende Entwick-lungsdynamik der europaischen Integration ist der ursprunglich wirtschaftlichen Freiheitsge-wahrleistung und ihrer Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des Europaischen Gerichtshofs zu verdanken. Sie hat eine intergouvernemental organisierte Handelsorganisation in ein suprana-tionales Gemeinwesen verwandelt, das auf nahezu allen Politikbereichen prasent ist und dabei im Rahmen seiner Zustandigkeiten viele staatliche Funktionen wahrnimmt. Dabei unterliegt die EU zuweilen einem gewissen Hang zu freiheitseinschrankender Uberregulierung, der mit einer Kommission zum Abbau von Burokratie und einer Selbstbeschrankung der Europaischen Kommission unter ihrem Prasidenten Jean-Claude Juncker nur im Ansatz gegengesteuert wurde. Es ware vielmehr am EuGH, das Prinzip der Verhaltnismasigkeit strenger zu prufen und die Ermessensspielraume der Unionsorgane zu beschranken.
Der erreichte Stand mit Blick auf die gegenwartigen integrationspolitischen Spannungsfelder wirft die Frage auf, welche Entwicklungspotentiale die unionale Freiheitsgemeinschaft heute noch hat. Hier muss die Einschatzung eher nachdenklich ausfallen. Es scheint vielmehr, als ob sich die Integrationsdynamik in dem Mase verringert, wie sich die Integration sachgebietlich verbreitert. Der Grund hierfur ist nicht, dass wirtschaftliche Freiheit heute weniger wichtig ist. Und nicht die Ursache, sondern vielmehr Symptom sind die gegenwartigen populistisch-nationalistischen Stromungen weltweit und in der Europaischen Union, deren eine Auspragung die Austrittskampagne in Grosbritannien reprasentiert. Es scheint eher, dass die Auf-triebskrafte des wirtschaftlichen Integrationsansatzes sachlich begrenzt sind. Lies sich die Entwicklung supranationaler Wirkungen des Unionsrechts noch unmittelbar aus dem allseits kon-sentierten Binnenmarktprinzip ableiten, musste schon die weitere Ausentwicklung der Grundfreiheiten und die Ausfaltung der Harmonisierung immer ofter an Grenzen stosen und wurde der Zusammenhang mit den Freiheiten immer dunner. Die Hinzufugung marktferner oder marktunabhangiger Politiken ohne die Schubwirkung durch gerichtlich durchsetzbare subjektive Rechte mundet in eine Politisierung der Union, die zugleich starker als fruher unterschied-liche Traditionen und Werte offenlegt. Dies zeigt sich etwa an den Zugangspolitiken oder der Sicherheitspolitik, aber auch an privatrechtlichen Materien wie dem unionalen Arbeitsrecht und sehr deutlich an Planen zu einer (Teil-)Vergemeinschaftung der Sozialsysteme. Es ist den Institutionen gleichwohl uber viele Jahre erfolgreich gelungen, den Ausbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts voranzutreiben, allerdings um den Preis erheblicher Differenzen insbesondere in der Asyl- und Fluchtlingspolitik. Auf einer anderen Ebene haben die Antidiskriminierungsrichtlinien mit erheblichen Auswirkungen in die nationalen Rechtsord-nungen hineingewirkt und manche traditionellen Gewohnheiten verandert. In der Hinaufzonung der Entscheidung uber z.T. tradierte Lebensverhaltnisse und Gewohnheiten liegt einer der Grunde, warum die Europaische Union heute als eher burgerfern verstanden wird und mancherorts an Zustimmung verliert.
Dies bedeutet in keiner Weise, dass sich die unionale Freiheitsgemeinschaft uberlebt hat, im Gegenteil: Sie hat das Potential, die Union uber die verbindenden Wirkungen von Freiheitsge-wahrleistungen zusammenzuhalten und damit politischen Entwicklungen, mogen sie vielleicht auch behutsamer sein als fruher, eine sichere Grundlage zu geben. Dahinter steht schlieslich die Einsicht, dass gemeinsame Freiheit verbindet, ihre Beschrankung aber trennt.