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Abstract
Kontrastreicher könnten die Bilder nicht sein: Wir sehen dramatische Szenen der Hoffnung und zugleich Szenen des Grauens. Millionen Menschen versuchen den Katastrophen des Krieges, der Folter, des Hungers, der Not in Ihrer Heimat zu entkommen. Ihr sehnsuchtsvoller Blick richtet sich auf einen kontinentalen Magneten: Europa. Und dann kommt der Überlebenskampf des Transfers. Diejenigen, die es schaffen, erreichen Lager, Transitzonen, Auffangzelte, deren humane Qualität zweifelhaft ist. Wir werden so daran erinnert, dass Völkerwanderungen zur Menschheitsgeschichte gehören. Aber der Zielhorizont Europas wankt. Er erodiert von innen. Nationalistische Alleingänge, populistische Slogans, egoistische Interessenlagen: Kollektive Erregung vernebelt den Verstand. Der Firnis der Zivilisation ist offenbar dünner als bisher angenommen. Vertrauen ist verloren gegangen. Der Kontinent wirkt im Blick auf seine Gestaltungskraft müde, alt, pessimistisch. Papst Franziskus rief den Europaparlamentariern zu, Europa könne seine Seele verlieren: „Wo ist deine Kraft? Wo ist jenes geistige Streben, das deine Geschichte belebt hat und durch das sie Bedeutung erlangte? Wo ist Dein Geist?“1 Wir können heute ergänzen: Europa ist offenbar die diskursive Energie ausgegangen. Der Kontinent bewegt sich auf dem Humus des Misstrauens. Alles das entleert den europäischen Ansatz, der einmal zu den großen Erfolgsgeschichten zählte. Man hatte aus den Fehlern der Geschichte gelernt nach Jahrhunderten der Kriege, nach zwei Weltkriegen – und jetzt sollte das Zusammenleben ganz anders organisiert werden: Als Friedensprojekt, als rechtsstaatliches System, als internationale Mitverantwortung, als Rahmen wirtschaftlicher Wohlfahrt. Und es gelang. Schließlich wurde diese Erfolgsgeschichte ausgezeichnet und gekrönt mit dem Friedensnobelpreis. Heute wirken diese Hinweise wie Merkwürdigkeiten einer längst untergegangenen Epoche, gleichsam Erkenntnisse von Archäologen und Muse-