{"title":"Clarice Lispector, Nathalie Sarraute oder die literarische Behandlung autobiographischer Oberflächen","authors":"Clarice Lispector","doi":"10.1515/9783110703450-030","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Während des nun ins Auge gefassten Zeitraums erhielten autobiographische und autofiktionale Schreibformen eine solche Bedeutung, dass man ohne jede Übertreibung sagen könnte, dass autobiographisches Schreiben in seinen vielfältigen Variationen zu einer der Hauptgattungen der Literaturen im Zeichen der Postmoderne geworden ist. Diese Aussage hat das Zeug, zumindest all jenen als paradox zu erscheinen, die unserer Vorlesung aufmerksam gefolgt sind. Denn dann wissen Sie, dass sich gerade in den sechziger Jahren unter dem Druck des Textualitäts-Dogmas im Umfeld der Gruppe Tel Quel die Positionen derart radikalisierten, dass immer schärfere Angriffe gegen eine im Abendland traditionell vorherrschende Subjektphilosophie und eine im literarischen Bereich immer vehementere Hinterfragung der Begriffe „Subjekt“ oder „Autor“ erfolgten. Dies subvertierte die Grundlagen literarischen Schreibens selbst – wie am Beispiel von Michel Butors Mobile gezeigt – und ließ nach neuen textuellen Ufern Ausschau halten. Dabei ging es schon bald nicht mehr um Subjektivität, insofern das Subjekt gleichsam abgeschafft worden war, zusammen mit allem Muff und den Konventionen der Psychologie und des psychologischen Romans. Die ‚Tiefe‘ literarischer Figuren erschien als nicht weniger bürgerlich, rückständig und reaktionär als die herkömmliche Darstellung literarischer Subjektivität, wie sie sich kanonisch innerhalb von Erzählwerken in einer Figurenkonstellation ausdrückt. Nicht die Figuren und deren Variationen des Autors, sondern allerhöchstens die Autorfunktion und deren Textualität waren Themen, denen man sich (zumindest in den Theorie-Eliten) noch mit großem Eifer zuwandte. Die Figur des Lesers rückte in den Mittelpunkt und die Markierung des Autors schien in den ausgehenden sechziger sowie beginnenden siebziger Jahren keine größere Aufmerksamkeit mehr zu verdienen. Und doch: Gerade jener Theoretiker und Essayist, der durchaus öffentlichkeitswirksam den Tod des Autors verkündet hatte, legte im Jahre 1975, also gerade einmal sieben Jahre nach seinem vielbeachteten Aufsatz, selbst eine Autobiographie vor, zudem in jener Reihe „Ecrivains de toujours“, in der er zu Beginn seiner Karriere eine dem Historiker Michelet gewidmete Biographie veröffentlicht hatte. War Barthes damit definitiv zu einem Schriftsteller geworden? Roland Barthes par Roland Barthes war durchaus keine gewöhnliche Autobiographie. Uns fehlt ein wenig die Zeit, uns mit diesem für die Entwicklung","PeriodicalId":427497,"journal":{"name":"Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne","volume":"54 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-02-08","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110703450-030","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Während des nun ins Auge gefassten Zeitraums erhielten autobiographische und autofiktionale Schreibformen eine solche Bedeutung, dass man ohne jede Übertreibung sagen könnte, dass autobiographisches Schreiben in seinen vielfältigen Variationen zu einer der Hauptgattungen der Literaturen im Zeichen der Postmoderne geworden ist. Diese Aussage hat das Zeug, zumindest all jenen als paradox zu erscheinen, die unserer Vorlesung aufmerksam gefolgt sind. Denn dann wissen Sie, dass sich gerade in den sechziger Jahren unter dem Druck des Textualitäts-Dogmas im Umfeld der Gruppe Tel Quel die Positionen derart radikalisierten, dass immer schärfere Angriffe gegen eine im Abendland traditionell vorherrschende Subjektphilosophie und eine im literarischen Bereich immer vehementere Hinterfragung der Begriffe „Subjekt“ oder „Autor“ erfolgten. Dies subvertierte die Grundlagen literarischen Schreibens selbst – wie am Beispiel von Michel Butors Mobile gezeigt – und ließ nach neuen textuellen Ufern Ausschau halten. Dabei ging es schon bald nicht mehr um Subjektivität, insofern das Subjekt gleichsam abgeschafft worden war, zusammen mit allem Muff und den Konventionen der Psychologie und des psychologischen Romans. Die ‚Tiefe‘ literarischer Figuren erschien als nicht weniger bürgerlich, rückständig und reaktionär als die herkömmliche Darstellung literarischer Subjektivität, wie sie sich kanonisch innerhalb von Erzählwerken in einer Figurenkonstellation ausdrückt. Nicht die Figuren und deren Variationen des Autors, sondern allerhöchstens die Autorfunktion und deren Textualität waren Themen, denen man sich (zumindest in den Theorie-Eliten) noch mit großem Eifer zuwandte. Die Figur des Lesers rückte in den Mittelpunkt und die Markierung des Autors schien in den ausgehenden sechziger sowie beginnenden siebziger Jahren keine größere Aufmerksamkeit mehr zu verdienen. Und doch: Gerade jener Theoretiker und Essayist, der durchaus öffentlichkeitswirksam den Tod des Autors verkündet hatte, legte im Jahre 1975, also gerade einmal sieben Jahre nach seinem vielbeachteten Aufsatz, selbst eine Autobiographie vor, zudem in jener Reihe „Ecrivains de toujours“, in der er zu Beginn seiner Karriere eine dem Historiker Michelet gewidmete Biographie veröffentlicht hatte. War Barthes damit definitiv zu einem Schriftsteller geworden? Roland Barthes par Roland Barthes war durchaus keine gewöhnliche Autobiographie. Uns fehlt ein wenig die Zeit, uns mit diesem für die Entwicklung