{"title":"Dada, Tzara und die sinnhafte Macht des Nonsens","authors":"","doi":"10.1515/9783110703450-007","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Problematik des Nonsens spielt in Alfred Jarrys Stücken eine nicht minder wichtige Rolle als jene konkrete Theatralität, mithin Körperlichkeit und Vergänglichkeit des Dargestellten, die gleichsam den eigentlichen Text überwuchern und eine Tendenz zur reinen Performanz aufweisen. Sie wird uns nicht nur bei Jarry und der Entwicklung hin zum absurden Theater, sondern auch in einer ganz entscheidenden künstlerischen und avantgardistischen Bewegung bewusst werden, deren verbindende Funktion aus heutiger Perspektive evident ist. Denn sie stellt gleichsam die Brücke dar zwischen dem frühen Avantgardismus – zum Teil auch avant la lettre – des italienischen wie europäischen Futurismus und des futuristischen Theaters in der Traditionslinie von Ubu Roi einerseits und der entwickelten Avantgarde, man könnte fast sagen ‚Hoch-Avantgarde‘, des französischen Surrealismus andererseits. Ich spreche selbstverständlich vom Dadaismus und den Dadaisten! Während der Futurismus zunächst eine Vorkriegserscheinung war, die in den Krieg hineinwuchs und ihn als Spektakel herbei sehnte, ist Dada in gewisser Weise eine Kriegserscheinung, die freilich eine gänzlich andere Position gegenüber Krieg und organisierter Gewalt einnahm. Während der Futurismus sich für den Krieg engagierte und Italien erfolgreich mit hinein reißen sollte, entwickelte Dada von Zürich aus eine klar gegen alle kriegerische Gewalt propagandistisch vorgehende Position, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges angesichts der allgemeinen Begeisterung noch die Position politischer Außenseiter war. Dada und der sich herausbildende Dadaismus agierten und agitierten von einem Territorium aus, das nicht in den Ersten Weltkrieg, in die „Grande Guerre“, hineingezogen worden, sondern neutral geblieben war: So bildete die Schweiz den idealen Nährboden für die Entwicklung dieser künstlerisch-literarischen Bewegung gegen den Krieg, gegen alle Kriege. Wir hatten bereits bei Kurt Schwitters im Anti-Liebesgedicht An Anna Blume bemerkt, dass in ganz entscheidender Weise die Erfahrungen der Futuristen mit den sogenannten „befreiten Worten“ genutzt und umgesetzt wurden bei dem Versuch, die Sprache zunehmend aus der traditionellen Logik herauszulösen, die Syntax zu unterlaufen, die Hierarchien im Satzbau abzubauen und die Semantik zu entstellen. Klar ist dabei, dass Konventionen und Traditionen nicht allein im literarischen Kontext, sondern im Bereich der allgemeinen und alltäglichen Sprache selbst angegriffen und überwunden werden sollten. Die logisch fundierte Sprache war also ein Feind, vielleicht sogar der Feind schlechthin: Wer mit der bürgerlichen Gesellschaft ein für alle Mal brechen wollte, der musste ran an die Sprache und sie verstellen, der musste zu einem Sprachendieb werden und sein Beutegut beherzt gegen alle Wiedereingliederungsversuche verteidigen!","PeriodicalId":427497,"journal":{"name":"Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne","volume":"127 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-02-08","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110703450-007","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Problematik des Nonsens spielt in Alfred Jarrys Stücken eine nicht minder wichtige Rolle als jene konkrete Theatralität, mithin Körperlichkeit und Vergänglichkeit des Dargestellten, die gleichsam den eigentlichen Text überwuchern und eine Tendenz zur reinen Performanz aufweisen. Sie wird uns nicht nur bei Jarry und der Entwicklung hin zum absurden Theater, sondern auch in einer ganz entscheidenden künstlerischen und avantgardistischen Bewegung bewusst werden, deren verbindende Funktion aus heutiger Perspektive evident ist. Denn sie stellt gleichsam die Brücke dar zwischen dem frühen Avantgardismus – zum Teil auch avant la lettre – des italienischen wie europäischen Futurismus und des futuristischen Theaters in der Traditionslinie von Ubu Roi einerseits und der entwickelten Avantgarde, man könnte fast sagen ‚Hoch-Avantgarde‘, des französischen Surrealismus andererseits. Ich spreche selbstverständlich vom Dadaismus und den Dadaisten! Während der Futurismus zunächst eine Vorkriegserscheinung war, die in den Krieg hineinwuchs und ihn als Spektakel herbei sehnte, ist Dada in gewisser Weise eine Kriegserscheinung, die freilich eine gänzlich andere Position gegenüber Krieg und organisierter Gewalt einnahm. Während der Futurismus sich für den Krieg engagierte und Italien erfolgreich mit hinein reißen sollte, entwickelte Dada von Zürich aus eine klar gegen alle kriegerische Gewalt propagandistisch vorgehende Position, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges angesichts der allgemeinen Begeisterung noch die Position politischer Außenseiter war. Dada und der sich herausbildende Dadaismus agierten und agitierten von einem Territorium aus, das nicht in den Ersten Weltkrieg, in die „Grande Guerre“, hineingezogen worden, sondern neutral geblieben war: So bildete die Schweiz den idealen Nährboden für die Entwicklung dieser künstlerisch-literarischen Bewegung gegen den Krieg, gegen alle Kriege. Wir hatten bereits bei Kurt Schwitters im Anti-Liebesgedicht An Anna Blume bemerkt, dass in ganz entscheidender Weise die Erfahrungen der Futuristen mit den sogenannten „befreiten Worten“ genutzt und umgesetzt wurden bei dem Versuch, die Sprache zunehmend aus der traditionellen Logik herauszulösen, die Syntax zu unterlaufen, die Hierarchien im Satzbau abzubauen und die Semantik zu entstellen. Klar ist dabei, dass Konventionen und Traditionen nicht allein im literarischen Kontext, sondern im Bereich der allgemeinen und alltäglichen Sprache selbst angegriffen und überwunden werden sollten. Die logisch fundierte Sprache war also ein Feind, vielleicht sogar der Feind schlechthin: Wer mit der bürgerlichen Gesellschaft ein für alle Mal brechen wollte, der musste ran an die Sprache und sie verstellen, der musste zu einem Sprachendieb werden und sein Beutegut beherzt gegen alle Wiedereingliederungsversuche verteidigen!