{"title":"内心的邪恶一股席卷欧洲文学的力量","authors":"F. Meier","doi":"10.5771/9783748922186-109","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Wer sich gefragt hat, welche Romane oder Texte in dem einzigen literarischen Beitrag dieses Bandes zum Thema „Das sogenannte Böse“ wohl behandelt werden, wird vermutlich gleich an Fjodor Dostojewkis Roman Schuld und Sühne gedacht haben. Denn wenn man über die Manifestation des Bösen in der Kriminalität oder auch über die Psychologie eines Verbrechers nachdenken will, was läge da näher, als sich ins Innenleben des Studenten Raskolnikow zu versenken und mitzuerleben, was sich kurz vor, während und nach der Ermordung der zwei Schwestern in ihm abspielt. Man hätte zudem das Gespräch ausbreiten können, in dem der Protagonist und der Ermittlungsrichter Profirij zwei Theorien zum Verbrecher diskutieren, einerseits die sogenannte Milieu-Theorie, nach der das soziale Umfeld maßgeblichen Anteil am Aufkommen von Verbrechen hat, andererseits die von Raskolnikow selbst aufgestellte Theorie, nach der herausragende Individuen das Recht haben, über Leichen zu gehen, sollte das für die Durchsetzung großartiger, der Menschheit förderlicher Ideen förderlich sein. Nach längerem Nachdenken habe ich mich dann aber entschlossen, nicht über diesen Roman zu sprechen. Denn darin wird von vornherein ausgeschlossen, dass Raskolnikow böse sein und aus Bosheit die alte Wucherin mit dem Beil erschlagen haben könnte. Selbst diejenigen, die wie Profirij von seiner Schuld von Anfang an überzeugt sind oder auch später davon erfahren, fühlen sich zu des Studenten eigenem Erstaunen nie von ihm, dem zweifachen Mörder, abgestoßen. In dem Roman geht es um etwas anderes: um das Ausloten des Schuldgefühls, in das der Mörder fällt, der sich für eines dieser herausragenden Individuen hält, und darum, wie er schließlich das Leid auf sich nimmt und welche Wandlung er erlebt. Am Ende wird Raskolnikow bekanntlich zu einem Heiligen. Der andere Text, der sich vielen sogleich nahegelegt haben wird, war Albert Camus‘ berühmter Roman Der Fremde. Einmal mehr eröffnet hier ein Werk der Weltliteratur – Camus kannte Dostojewskis Oeuvre übrigens hervorragend – Einblick in das Innenleben eines Mörders, der jahrelang unauffällig gelebt, vielleicht sollte man besser sagen: existiert hat, bis ihn – wie es heißt – eine Reihe von Zufällen, namentlich die gleißende Sonne in","PeriodicalId":215954,"journal":{"name":"Das sogenannte Böse","volume":"462 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-11-16","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Das Böse in uns – ein Streifzug durch die europäische Literatur\",\"authors\":\"F. Meier\",\"doi\":\"10.5771/9783748922186-109\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Wer sich gefragt hat, welche Romane oder Texte in dem einzigen literarischen Beitrag dieses Bandes zum Thema „Das sogenannte Böse“ wohl behandelt werden, wird vermutlich gleich an Fjodor Dostojewkis Roman Schuld und Sühne gedacht haben. Denn wenn man über die Manifestation des Bösen in der Kriminalität oder auch über die Psychologie eines Verbrechers nachdenken will, was läge da näher, als sich ins Innenleben des Studenten Raskolnikow zu versenken und mitzuerleben, was sich kurz vor, während und nach der Ermordung der zwei Schwestern in ihm abspielt. Man hätte zudem das Gespräch ausbreiten können, in dem der Protagonist und der Ermittlungsrichter Profirij zwei Theorien zum Verbrecher diskutieren, einerseits die sogenannte Milieu-Theorie, nach der das soziale Umfeld maßgeblichen Anteil am Aufkommen von Verbrechen hat, andererseits die von Raskolnikow selbst aufgestellte Theorie, nach der herausragende Individuen das Recht haben, über Leichen zu gehen, sollte das für die Durchsetzung großartiger, der Menschheit förderlicher Ideen förderlich sein. Nach längerem Nachdenken habe ich mich dann aber entschlossen, nicht über diesen Roman zu sprechen. Denn darin wird von vornherein ausgeschlossen, dass Raskolnikow böse sein und aus Bosheit die alte Wucherin mit dem Beil erschlagen haben könnte. Selbst diejenigen, die wie Profirij von seiner Schuld von Anfang an überzeugt sind oder auch später davon erfahren, fühlen sich zu des Studenten eigenem Erstaunen nie von ihm, dem zweifachen Mörder, abgestoßen. In dem Roman geht es um etwas anderes: um das Ausloten des Schuldgefühls, in das der Mörder fällt, der sich für eines dieser herausragenden Individuen hält, und darum, wie er schließlich das Leid auf sich nimmt und welche Wandlung er erlebt. Am Ende wird Raskolnikow bekanntlich zu einem Heiligen. Der andere Text, der sich vielen sogleich nahegelegt haben wird, war Albert Camus‘ berühmter Roman Der Fremde. Einmal mehr eröffnet hier ein Werk der Weltliteratur – Camus kannte Dostojewskis Oeuvre übrigens hervorragend – Einblick in das Innenleben eines Mörders, der jahrelang unauffällig gelebt, vielleicht sollte man besser sagen: existiert hat, bis ihn – wie es heißt – eine Reihe von Zufällen, namentlich die gleißende Sonne in\",\"PeriodicalId\":215954,\"journal\":{\"name\":\"Das sogenannte Böse\",\"volume\":\"462 1\",\"pages\":\"0\"},\"PeriodicalIF\":0.0000,\"publicationDate\":\"2020-11-16\",\"publicationTypes\":\"Journal Article\",\"fieldsOfStudy\":null,\"isOpenAccess\":false,\"openAccessPdf\":\"\",\"citationCount\":\"0\",\"resultStr\":null,\"platform\":\"Semanticscholar\",\"paperid\":null,\"PeriodicalName\":\"Das sogenannte Böse\",\"FirstCategoryId\":\"1085\",\"ListUrlMain\":\"https://doi.org/10.5771/9783748922186-109\",\"RegionNum\":0,\"RegionCategory\":null,\"ArticlePicture\":[],\"TitleCN\":null,\"AbstractTextCN\":null,\"PMCID\":null,\"EPubDate\":\"\",\"PubModel\":\"\",\"JCR\":\"\",\"JCRName\":\"\",\"Score\":null,\"Total\":0}","platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Das sogenannte Böse","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783748922186-109","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
Das Böse in uns – ein Streifzug durch die europäische Literatur
Wer sich gefragt hat, welche Romane oder Texte in dem einzigen literarischen Beitrag dieses Bandes zum Thema „Das sogenannte Böse“ wohl behandelt werden, wird vermutlich gleich an Fjodor Dostojewkis Roman Schuld und Sühne gedacht haben. Denn wenn man über die Manifestation des Bösen in der Kriminalität oder auch über die Psychologie eines Verbrechers nachdenken will, was läge da näher, als sich ins Innenleben des Studenten Raskolnikow zu versenken und mitzuerleben, was sich kurz vor, während und nach der Ermordung der zwei Schwestern in ihm abspielt. Man hätte zudem das Gespräch ausbreiten können, in dem der Protagonist und der Ermittlungsrichter Profirij zwei Theorien zum Verbrecher diskutieren, einerseits die sogenannte Milieu-Theorie, nach der das soziale Umfeld maßgeblichen Anteil am Aufkommen von Verbrechen hat, andererseits die von Raskolnikow selbst aufgestellte Theorie, nach der herausragende Individuen das Recht haben, über Leichen zu gehen, sollte das für die Durchsetzung großartiger, der Menschheit förderlicher Ideen förderlich sein. Nach längerem Nachdenken habe ich mich dann aber entschlossen, nicht über diesen Roman zu sprechen. Denn darin wird von vornherein ausgeschlossen, dass Raskolnikow böse sein und aus Bosheit die alte Wucherin mit dem Beil erschlagen haben könnte. Selbst diejenigen, die wie Profirij von seiner Schuld von Anfang an überzeugt sind oder auch später davon erfahren, fühlen sich zu des Studenten eigenem Erstaunen nie von ihm, dem zweifachen Mörder, abgestoßen. In dem Roman geht es um etwas anderes: um das Ausloten des Schuldgefühls, in das der Mörder fällt, der sich für eines dieser herausragenden Individuen hält, und darum, wie er schließlich das Leid auf sich nimmt und welche Wandlung er erlebt. Am Ende wird Raskolnikow bekanntlich zu einem Heiligen. Der andere Text, der sich vielen sogleich nahegelegt haben wird, war Albert Camus‘ berühmter Roman Der Fremde. Einmal mehr eröffnet hier ein Werk der Weltliteratur – Camus kannte Dostojewskis Oeuvre übrigens hervorragend – Einblick in das Innenleben eines Mörders, der jahrelang unauffällig gelebt, vielleicht sollte man besser sagen: existiert hat, bis ihn – wie es heißt – eine Reihe von Zufällen, namentlich die gleißende Sonne in