{"title":"Atemnot und schöner Atem. Der Atem als Souveränitätspolitikum bei Marcel Duchamp","authors":"Lars Blunck","doi":"10.1515/9783110701876-010","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"1 Der vorliegende Text geht zurück auf einen Abendvortrag mit dem Titel „Der Künstler als Respirator. Marcel Duchamps Atemarbeit“, den ich am 12. September 2019 auf der Tagung Atem. Gestalterische, ökologische und soziopolitische Dimensionen 1900–Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten habe. 2 Siehe bspw. Stefan Banz (Hg.), Marcel Duchamp and the Forestay Waterfall, Zürich 2010. 3 Siehe hierzu insb. Lars Blunck, Duchamps Readymade, München 2017, S. 210–228. 4 Serge Stauffer (Hg.), Marcel Duchamp. Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit 1992, S. 85, engl.: Anonym, „Art Was a Dream“, in: Newsweek 9 (54), New York, 9. November 1959, S. 118–119, hier: S. 119: „breather“. 5 Stauffer 1992 (wie Anm. 4), S. 85, engl.: Newsweek 1959 (wie Anm. 4), S. 119. 6 Ebd., S. 47, frz.: Alain Jouffroy, „Conversations avec Marcel Duchamp“ [1961], in: ders. (Hg.), Une Révolution du regard. A propos de quelques peintres et sculpteurs contemporains, Paris 1964, S. 107–124, hier: S. 109: „ J'ai élargi la manière de respirer.“ 7 Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972 [frz. 1967], S. 108, frz.: Pierre Cabanne, Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris 1967, S. 134: „J’aime mieux [...] respirer.“ 8 Stauffer 1992 (wie Anm. 4), S. 64 [Übers. geänd.], engl.: Geoffrey Hellman, „Marcel Duchamp“, in: The New Yorker, 6. April 1957 (Fotokopie, Serge Stauffer Archiv, StaatsVielen seiner Zeitgenossen muss Marcel Duchamp, einer der wirkmächtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, in hohem Alter wie ein lebensund zugleich kunstweiser Pensionär erschienen sein.1 Obgleich, und dies hat die Duchamp-Forschung sehr tiefgreifend erschlossen, er bis zu seinem Lebensende recht umtriebig gewesen ist,2 hatte Duchamp (1887– 1968) dennoch von sich das Bild eines Grandseigneurs, eines emeritierten Künstlers, eines vorzeitigen Ruheständlers entworfen und seine angebliche Selbstemeritierung geradezu öffentlich zelebriert.3 Immer wieder stilisierte er sich in den 1950er und 60er Jahren öffentlich als ein entschieden Untätiger – und (er)fand dafür die Selbstbezeichnung als „Atmer“ (breather);4 um seine Untätigkeit zu markieren, rekurrierte Duchamp auf den Atem, auf das Atmen und auf sich als „respirateur“.5 Im Herbst 1954 beispielsweise teilte Duchamp im Alter von 67 Jahren mit, er habe, statt zu arbeiten, nunmehr „die Art zu atmen ausgeweitet“.6 Ein gutes Jahrzehnt später erklärte der damals 78-Jährige, er lebe lieber, „atme lieber“,7 als dass er arbeite. Bereits im Frühjahr 1957 hatte er allgemein von Künstler*innen – damit aber auch und gerade sich selbst meinend – behauptet: „Man lebt und man weiß nicht, wie man lebt. Man stirbt einfach nicht. [...] Die Leute fragen Künstler ständig, wie sie leben. Sie brauchen nicht zu leben. Sie atmen einfach.“8 Und zwei Jahre später, im November 1959, teilte Duchamp mit, er verLars Blunck","PeriodicalId":141930,"journal":{"name":"Atem / Breath","volume":"26 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Atem / Breath","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110701876-010","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
1 Der vorliegende Text geht zurück auf einen Abendvortrag mit dem Titel „Der Künstler als Respirator. Marcel Duchamps Atemarbeit“, den ich am 12. September 2019 auf der Tagung Atem. Gestalterische, ökologische und soziopolitische Dimensionen 1900–Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten habe. 2 Siehe bspw. Stefan Banz (Hg.), Marcel Duchamp and the Forestay Waterfall, Zürich 2010. 3 Siehe hierzu insb. Lars Blunck, Duchamps Readymade, München 2017, S. 210–228. 4 Serge Stauffer (Hg.), Marcel Duchamp. Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit 1992, S. 85, engl.: Anonym, „Art Was a Dream“, in: Newsweek 9 (54), New York, 9. November 1959, S. 118–119, hier: S. 119: „breather“. 5 Stauffer 1992 (wie Anm. 4), S. 85, engl.: Newsweek 1959 (wie Anm. 4), S. 119. 6 Ebd., S. 47, frz.: Alain Jouffroy, „Conversations avec Marcel Duchamp“ [1961], in: ders. (Hg.), Une Révolution du regard. A propos de quelques peintres et sculpteurs contemporains, Paris 1964, S. 107–124, hier: S. 109: „ J'ai élargi la manière de respirer.“ 7 Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972 [frz. 1967], S. 108, frz.: Pierre Cabanne, Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris 1967, S. 134: „J’aime mieux [...] respirer.“ 8 Stauffer 1992 (wie Anm. 4), S. 64 [Übers. geänd.], engl.: Geoffrey Hellman, „Marcel Duchamp“, in: The New Yorker, 6. April 1957 (Fotokopie, Serge Stauffer Archiv, StaatsVielen seiner Zeitgenossen muss Marcel Duchamp, einer der wirkmächtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, in hohem Alter wie ein lebensund zugleich kunstweiser Pensionär erschienen sein.1 Obgleich, und dies hat die Duchamp-Forschung sehr tiefgreifend erschlossen, er bis zu seinem Lebensende recht umtriebig gewesen ist,2 hatte Duchamp (1887– 1968) dennoch von sich das Bild eines Grandseigneurs, eines emeritierten Künstlers, eines vorzeitigen Ruheständlers entworfen und seine angebliche Selbstemeritierung geradezu öffentlich zelebriert.3 Immer wieder stilisierte er sich in den 1950er und 60er Jahren öffentlich als ein entschieden Untätiger – und (er)fand dafür die Selbstbezeichnung als „Atmer“ (breather);4 um seine Untätigkeit zu markieren, rekurrierte Duchamp auf den Atem, auf das Atmen und auf sich als „respirateur“.5 Im Herbst 1954 beispielsweise teilte Duchamp im Alter von 67 Jahren mit, er habe, statt zu arbeiten, nunmehr „die Art zu atmen ausgeweitet“.6 Ein gutes Jahrzehnt später erklärte der damals 78-Jährige, er lebe lieber, „atme lieber“,7 als dass er arbeite. Bereits im Frühjahr 1957 hatte er allgemein von Künstler*innen – damit aber auch und gerade sich selbst meinend – behauptet: „Man lebt und man weiß nicht, wie man lebt. Man stirbt einfach nicht. [...] Die Leute fragen Künstler ständig, wie sie leben. Sie brauchen nicht zu leben. Sie atmen einfach.“8 Und zwei Jahre später, im November 1959, teilte Duchamp mit, er verLars Blunck