Gustave Courbets mer orageuse als museale Ikone des modernen Naturalismus um 1900 Ein französisches Bildmotiv in den Museen des deutschen Kaiserreiches

Abstract

Wie keine andere Bilderfindung Gustave Courbets steht die im Deutschen un­ ter dem Titel Die Welle bekannte Meereslandschaft, im Französischen häufi­ ger als mer orageuse denn als la vague bezeichnet, im Mittelpunkt der deut­ schen Rezeption dieses Künstlers. In Hans Hildebrandts Überblick über die Kunst der jüngeren Vergangenheit von 1924, seinem Beitrag zum Handbuch der Kunstwissenschaft, dem Standardwerk der deutschsprachigen Kunstgeschichte im frühen 20. Jahrhundert, ist eine Version dieses Bildmotives sogar die einzige mit dem Text koordinierte Abbildung, die das Gesamtwerk Courbets repräsen­ tieren kann (Abb. 1 ). 1 Abgebildet ist dort aber erstaunlicherweise ein Exemp­ lar aus dem Pariser Kunsthandel, dessen Aufnahme laut Bildunterschrift dem Galeristen Paul Durand-Ruel verdankt wurde, und nicht eine der zahlreichen Versionen desselben Sujets, die man inzwischen in deutschen Museen für neu­ ere Kunst sehen konnte. Tatsächlich hatte kurz nach 1900 ein Trend eingesetzt, gerade diese Bilderfindung als die exemplarische Veranschaulichung des mo­ dernen Naturalismus des Künstlers zu verstehen, der zu einer Proliferation von Courbets Wellen-Bildern in deutschen Museen führte. Mit der Berliner Nationalgalerie an der Spitze hätten Hildebrandt oder sein Verlag ohne weite­ res aus einem breiten Angebot an öffentlich zugänglichen Exemplaren ähnlicher oder besserer Qualität wählen können. Obwohl sie darauf verzichteten, bestä­ tigt ihre Auswahl, dass eine einzelne, zudem relativ untypische Bilderfindung aus dem Spätwerk des Künstlers einen herausragenden Status erlangt hatte. Es stellt sich die Frage, warum diese Form der Meereslandschaft, die Courbet in den Jahren um 1870 mehrfach anfertigte und ausstellte, rund eine Generation